Historical Exclusiv Band 44
mehrere Monate Zeit gehabt hatte, darüber nachzudenken. Wenn er ihr Bruder wäre, würde er jetzt vermutlich genauso anklagend und zornig blicken, wie Jack es eben tat.
„Eure Schwester hat Raubüberfälle auf den öffentlichen Straßen verübt. Ich kann nichts für sie tun, abgesehen von dem Versprechen, dass ich schon Eurem Onkel gegeben habe.“
„Wie lautet es?“
„Ich werde den König ersuchen, sie für ihre Schandtaten nicht hinrichten zu lassen.“
Jack sagte einen Moment lang nichts. Dann meinte er freiheraus: „Sie war verliebt in Euch.“
Diese Worte trafen Anthony wie ein Schlag ins Gesicht. „Das glaube ich nicht“, erwiderte er abweisend.
„Sie hat sogar das Bett mit Euch geteilt. Meint Ihr etwa, Sarah wäre eine Frau, die das mit einem Mann tut, ohne ihn zu lieben?“
Anthony fühlte sich sichtlich unbehaglich. Die Monate im Gefängnis hatten Jack reifen lassen. Er wirkte nicht mehr wie ein Halbwüchsiger. Und als Sarahs Bruder hatte er das Recht, Anthony für seine Haltung zur Verantwortung zu ziehen. Sie sprachen jedoch über einen Menschen, der ein schweres Verbrechen begangen hatte.
„Sie hat mich belogen“, antwortete er und versuchte, keine Verteidigungshaltung einzunehmen. „Die ganze Zeit, die sie mit mir im Bett verbracht hat, hat sie mir etwas vorgespielt.“
Jack schüttelte den Kopf. „Sicher hat sie Euch ihre Gefühle nicht vorgetäuscht.“ Er stand auf, trat an den offenen Kamin und lehnte sich gegen die warmen Steine. „Sarah log nur, um mich zu beschützen. Das ist die Wahrheit. Sie hat das oft getan in den vergangenen Jahren. Aber Ihr dürft nicht über sie urteilen, bevor Ihr nicht wisst, wie wir gelebt haben. Wir waren Augenzeugen beim Tod unseres Vaters. Die Albträume haben uns verfolgt. Und wir wussten nicht, ob wir nicht die Nächsten sein würden.“
„Der König würde niemals Kinder hinrichten lassen.“
„Wir hatten keinerlei Informationen über die Richtlinien der königlichen Rechtsprechung. Sarah verbrachte den Großteil ihres Lebens damit, mich zu beschützen und die Lebensbedingungen für die Menschen in unserer Umgebung zu verbessern.“
Dieselben Argumente hatte sich Anthony schon oft selbst gesagt, seit er sie zum letzten Mal gesehen hatte. Damals ritt sie mit gefesselten Händen an Olivers Pferd gebunden nach London. Doch es änderte nichts an der Tatsache, dass sie ihn betrogen und ein Spiel mit ihm getrieben hatte.
„Eure Schwester besitzt viele bewundernswerte Eigenschaften. Aber sie ist gleichzeitig eine Lügnerin und Diebin, und dafür muss sie nun die Verantwortung tragen.“
Anthonys Miene wirkte hart. „Sperrt mich wieder in das Gefängnis, und lasst sie gehen“, bat Jack ihn.
Der Baron fuhr sich voller Ärger und Erbitterung mit den Händen durchs Haar. „Es liegt doch nicht in meiner Gewalt, sie gehen zu lassen. Ich bin nicht derjenige, der sie dort festhält. Sie hat gegen das Gesetz verstoßen, gegen das Gesetz des Königs. Ich habe nur erwirken können, dass Ihr anstelle einer Verurteilung bei der Marine verpflichtet werdet. Euer junges Alter und der Umstand, dass Ihr nur ein Komplize gewesen seid, sprachen für Euch.“
Jack schwieg eine Weile. „Sarah denkt, dass ich hingerichtet worden bin“, erklärte er schließlich. Seine Stimme versagte, als er sich an die letzte schmerzliche Begegnung mit seiner Schwester in der Gefängniszelle erinnerte.
„Wie war das möglich?“
„Die Wächter führten mich zu ihr, damit ich sie sprechen konnte. Wir beide dachten, es sei das letzte Mal, und ich würde anschließend zur Vollstreckung des Todesurteils zum ‚Tower Hill‘ gebracht werden.“
„Mein Gott, sie muss ja in schrecklicher Angst leben!“ Anthony konnte sich gut vorstellen, welche Schrecken Sarah durchlebte. Ihr Bruder Jack war ihr ja sogar wichtiger als ihr eigenes Leben.
„Könnt Ihr dafür sorgen, dass Sie die Nachricht über meine Freilassung erhält?“
Anthony nickte. Er hatte sich zwar geschworen, dass er nach seiner bevorstehenden Abreise aus Yorkshire diese schreckliche Familie Fairfax ein für alle Mal vergessen wollte, aber diese kleine Gefälligkeit konnte er noch erledigen. „Ich werde veranlassen, dass sie Bescheid erhält.“
Jack ging zu seinen Stuhl zurück und nahm umständlich Platz. Er musterte den Baron vor sich scharf. Die letzten Monate im Gefängnis hatte er diesen Mann gehasst. Seine Abneigung gegen ihn war fast so groß gewesen wie die seiner Schwester.
Sarah hatte ihren Zorn
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