Historical Exklusiv Band 06
Laterne in der Hand. Die junge Frau war erschöpft, aber dennoch sehr befriedigt über den reibungslosen Ablauf. Das half ihr, all ihre Sehnsüchte zu vergessen, die Gedanken an Rache und ungezählte schlaflose Nächte.
Beim Umschauen bemerkte sie, dass sich die Leinwandhülle um einen Ballen von scharlachrotem Seidenstoff gelöst hatte. Sorgfältig stopfte sie ihn wieder in den Ballen, so gut es ging. Nichts durfte beschädigt werden, bevor in der nächsten Nacht ein Packzug Maultiere mit umwickelten Hufen all die Dinge zum Verkauf fortbrachte.
Vorsichtig strich Rosalind über ein noch hervorlugendes Stück des feinen Stoffes. Wie aufregend musste es sein, ein Gewand aus solch kostbarem Material zu tragen! Sie stellte sich vor, es zu einem Ball anzulegen oder einem Festmahl, bei dem sich die Tafel unter der Last der Speisen bog. Sie wünschte sich, damit zu Hofe zu fahren, um dem schrecklichen König Heinrich zu sagen, was sie von ihm dachte und von dem Unglück, das er über sie alle gebracht hatte.
Mit einem heftigen Kopfschütteln befreite sie sich von diesen törichten Fantastereien. Mistress Rosalind Barlow führte ihren Krieg in Deal und nicht bei Hofe. Sie stieß den Ballen mit dem Fuß beiseite, als wäre er der König selbst. Verflucht sei Heinrich VIII. von England für das, was er ihr angetan hatte und ganz Deal! Und verflucht sei jeder gemeine, niederträchtige, widerwärtige Vasall des Königs, der ihm diente.
Mit Tränen in den Augen wandte sich Rosalind zu der Leiter, die zu einer in ihrem Schlafzimmer verborgenen Falltür führte, löschte das Licht der Laterne und begann emporzuklettern.
1. Kapitel
Nicholas Spencer liebte sanfte Frauen, die lieblich, wohlgestaltet und vor allem fügsam waren. Just in diesem Augenblick hielten drei angehende Hofdamen nach ihm Ausschau. Man konnte nicht sagen, dass sie sich besonders zurückhaltend benahmen, aber sie erregten sein Wohlgefallen in hohem Maße.
"Lord Spencer!" riefen sie ihm von dem Uferweg entlang der Themse zu. Nicholas nickte ihnen galant zu, als er unter dem schattigen Sonnensegel der königlichen Barke hervortrat und geschmeidig ans Ufer sprang.
"Wir haben Euch schmerzlich vermisst! Wo hattet Ihr Euch versteckt, Ihr böser Bube!" rief eine von ihnen und kicherte hinter vorgehaltener Hand. Sie winkten ihm zu, und die hellen Schleier, die von ihren eng anliegenden, reich bestickten Hauben im italienischen Stil herabhingen, bewegten sich in der leichten Brise, die vom Fluss herüberwehte.
Nick erinnerte sich nicht an ihre Namen, erkannte in ihnen jedoch die jüngst eingetroffenen Neuankömmlinge. Die Blonde hatte für kurze Zeit das Lager des rastlosen Königs geteilt. Einmal, so erinnerte sich Nick, hatte er die Einladung der Damen, sie zu begleiten, nicht abschlagen können. Heute aber hatte er anderes im Sinn, hing doch seine Zukunft gleichsam in der Schwebe, und so winkte er lediglich zurück, während er den Kiesweg hinauf zu dem weitläufigen Backsteinbau des Palastes von Whitehall schritt.
Wenn Seine Majestät König Heinrich VIII. befahl, war Nick sofort zur Stelle. Seit seinem neunten Lebensjahr, als der Monarch ihn in seine Obhut genommen hatte, hatte sich Nicholas Spencer ausschließlich den Anliegen des betriebsamen Tudor-Herrschers geweiht.
Aus diesem Grunde verbrachte Nick nur wenig Zeit in seinem eigenen Hause flussaufwärts in Greenwich. Diesmal hatte ihn der König bereits nach zwei Tagen wieder zurückbeordert. Dabei war Nick erst vor einem Monat von einer Mission aus der französischen Hafenstadt Calais zurückgekehrt, die von den Engländern besetzt und daher von größter Wichtigkeit war. Von Frankreich und Spanien drohten derzeit tief greifende Gefahren, und er hatte geahnt, dass seines Bleibens nicht lange sein würde und der König wieder seiner bedurfte.
Nicholas verlängerte die Schritte, als er die großen Gärten des Königs durchmaß und die Wache am Flusstor des Palastes passierte. Dann eilte er die halbdunklen Korridore entlang zum Empfangssaal, wo Höflinge auf eine Audienz warteten, obwohl zweifellos die wenigsten den König selbst zu Gesicht bekommen würden, sondern den mächtigen Großkämmerer Thomas Cromwell.
Schließlich betrat Nick den holzgetäfelten Audienzsaal und nickte den farbenprächtig gekleideten Hauptleuten, die dort Wache hielten, freundlich zu. In diesem Augenblick erschien Cromwell höchstpersönlich. Bei seinem Anblick musste Nick immer an einen schwarzen Raben denken, der am
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