Historical Exklusiv Band 06
East India Company hatte nichts übrig für die ältere Miss Abernathy und missbilligte deren Verhalten generell. Mehr als einmal hatte Lady Blair unmissverständliche Andeutungen fallen lassen, dass Sarah bei ihren Bemühungen, ihrem Vater bei seiner Arbeit zu helfen, zu weit ging, vor allem dann, wenn ihre Unterstützung darin bestand, den Leprakranken und Aussätzigen das Essen zu bringen, oder wenn sie sich gar dazu hinreißen ließ, die grausame Tradition, kleinen Mädchen die Füße zu bandagieren und dadurch schmerzhaft zu deformieren, öffentlich anzuprangern. Dennoch war die gönnerhafte Lady Blair stets freundlich zu Abigail gewesen und hatte sie zusammen mit ihrer Schwester, die als ihre Anstandsdame fungierte, zu allen wichtigen gesellschaftlichen Ereignissen eingeladen. Um Abigails willen vermied Sarah es im Allgemeinen, mit der älteren Frau zu streiten.
"Schwesterherz, ich habe doch nur einen Scherz gemacht. Lady Blair wird um diese Zeit gewiss nicht mehr unterwegs sein, schon gar nicht in jenem Teil der Stadt, den ich aufzusuchen gedenke."
"Aber was geschieht, wenn jemand anders dich sieht? Oder erfährt, wohin du unterwegs bist?" Das schöne junge Mädchen rang verzweifelt die Hände. "Du wirst auf diese Weise deine Chancen bei diesem jungen Geistlichen ruinieren, der gerade aus der Heimat gekommen ist, der, den wir auf dem Praya Grande kennen gelernt haben."
Als sie an den jungen Mann dachte, der den beiden Schwestern während des größten Teils des Nachmittags wie ein verlorener kleiner Hund über Macaos breiten Küstenboulevard nachgelaufen war, lachte Sarah hellauf.
"Mr. Silverstone war nicht im Geringsten an mir interessiert, du Gänschen. Er konnte den Blick nicht von dir abwenden, während du neben ihm hergingst."
"Ach, so etwas darfst du nicht sagen!" Tränen traten in Abigails aquamarinfarbene Augen. "Wirklich, ich ging nur mit ihm, weil er unbedingt über dich reden wollte."
Charlie schüttelte missbilligend den Kopf. "Du wirst doch nicht wieder losheulen, oder?"
Sarah warf dem Bruder einen strengen Blick zu, während sie die erregte Abigail zu beruhigen versuchte. Trotz Sarahs Bemühungen, ihr diese dummen Träumereien auszutreiben, hegte Abigail noch immer insgeheim Hoffnungen für die ältere Schwester. Auf ihre reizende und selbstlose Art sang sie den Männern, die sich um sie scharten, Sarahs Loblied, und weigerte sich anzuerkennen, dass die geliebte Schwester im fortgeschrittenen Alter von vierundzwanzig Jahren längst eine alte Jungfer war, abgelegt und dem Interesse heiratswilliger Männer unwiderruflich entzogen.
Sarah selbst hatte sich schon seit langem damit abgefunden, dass sie ohne Mitgift und mit ihrem reizlosen Gesicht keinen Ehemann finden würde. Sie schätzte sich glücklich, dass man ihr die Verantwortung übertragen hatte, drei lebhafte Brüder und eine Schwester aufzuziehen, eine Aufgabe, die ihre mütterlichen Instinkte voll und ganz befriedigte. Wenn sie sich gelegentlich nachts schlaflos hin und her warf, geplagt von anderen als mütterlichen Gefühlen, dann nahm sie dies als Teil des Lebens und damit als unvermeidlich hin. Sie war schließlich eine Frau – allerdings eine sehr praktisch veranlagte. Mit der Zeit würden diese seltsamen, vagen Sehnsüchte schon vergehen. Inzwischen hatte sie die Familie, für die sie sorgen, und ihren Vater, um den sie sich kümmern musste.
Vorausgesetzt, sie fand ihn bald!
Bei dem Gedanken an den vermissten Vater streichelte sie ein letztes Mal Abigails Schulter. "Ich muss jetzt gehen. Der Koch meinte, sein fünfter Neffe würde auf mich warten."
"Ich wünschte, du würdest nicht gehen", flüsterte Abigail und kämpfte mit den Tränen, während sie und Charlie die Schwester aus dem kleinen Schlafgemach geleiteten.
"Mach dir nur keine Sorgen. Ich werde lediglich mit Lord Straithe sprechen."
"Aber Sarah, musst du das ausgerechnet in einem …" Abigail unterbrach sich gerade noch rechtzeitig und warf einen Blick auf Charlies fragendes Gesicht. "Musst du das ausgerechnet an einem solchen Ort tun?"
"Ja, das muss ich. Da er sich weigert, zur Mission zu kommen, habe ich keine andere Wahl, als ihn in der Höhle aufzusuchen, in der er sich am liebsten versteckt."
"Sarah!" Charlie hüpfte vor Aufregung hin und her. "Du hast nie erwähnt, dass du eine Opiumhöhle besuchen willst! Darf ich dich begleiten?"
Sie streichelte seine widerspenstigen braunen Locken. "Aber ich gehe doch überhaupt nicht zu einem solch abstoßenden Ort.
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