Historical Exklusiv Band 06
genauso zu empfinden. Das schlanke Schiff tanzte über die Wellen wie ein verspielter Delfin und schien alle an Bord einzuladen, diesen heiteren Nachmittag mit ihr zu teilen. Sarah jedenfalls tat es. Sie konnte sich nicht erinnern, wann sie jemals in ihrem Leben einfach nur in der Sonne gesessen hatte. Gewöhnlich gab es in ihrem geschäftigen Alltag keine freie Minute. Es gab immer einen Riss in Charlies Hose, der genäht werden musste, Abigails Haube, die neue Bänder benötigte, oder es musste eine Predigt für ihren Vater abgeschrieben werden.
Kein Wunder, dass Männer zur See fahren, dachte sie verträumt. Sie ließen alle Sorgen und Probleme zurück, schoben die ständigen Ansprüche von Familie und Freunden beiseite, wie sehr sie diese auch lieben mochten. Wochen, Monate oder Jahre segelten sie über die weiten Ozeane, liefen fremde Häfen an. Sie kämpften gegen Piraten und Stürme oder auch gegeneinander, und in Augenblicken wie diesen, im strahlenden Glanz der Sonne, wurden sie eins mit dem Himmel und dem Wind. Nie zuvor in ihrem Leben hatte Sarah sich so frei gefühlt.
Plötzlich berührte ein kalter Hauch ihr Gesicht. Sarah öffnete ein Auge und sah, dass eine Gestalt zwischen ihr und den wärmenden Sonnenstrahlen stand. Liam Burke lächelte auf sie hinab. Die Narbe an seiner Schläfe war noch immer rot, aber sie heilte gut.
"Ich muss Ihnen etwas Schatten spenden, Miss Sarah, sonst werden Sie so braun wie die Gewürznelken, die wir auf unserer letzten Reise nach England mitnahmen."
"Das ist mir egal", sagte sie und erwiderte sein Lächeln.
Das stimmte. In den letzten Tagen schienen Dinge wie ein bleicher Teint keine Rolle mehr zu spielen.
"Das mag stimmen", erwiderte der erste Maat. "Aber Sie sollten auch nicht zu viel Sonne abbekommen, sonst werden Sie krank – wieder einmal."
Sarah verzog das Gesicht. "Es handelte sich lediglich um eine kurze Indisponiertheit, und das wissen Sie, Mr. Burke. Mein Magen ist einfach nicht stark genug für gekochte Haifischaugen."
"Aber Sie haben davon gekostet."
"Ja, das habe ich", erwiderte Sarah mit schiefem Lächeln. "Ich konnte mich doch vor der Mannschaft nicht blamieren. Jeder schien mich zu beobachten."
Der rothaarige Ire lachte. "Es war gut, dass Ihr Magen sich rechtzeitig wieder erholt hat. Der Kapitän hat nämlich gedroht, Sie über Bord zu werfen, falls Ihnen noch einmal übel wird."
Bei der Erinnerung daran verschwand Sarahs Lächeln. Trotz all seiner Bemerkungen über dumme Frauenzimmer, die nicht so viel Verstand besaßen wie eine Seemöwe, hatte Straithe ihr den Kopf gehalten, während sie sich immer und immer wieder in einen Eimer erbrach, und dann hatte er ihr das feuchte Haar aus dem Gesicht gestrichen und sie in seine Koje gelegt. Es war das erste Mal, dass er sie berührt hatte seit ihrer Abreise von Namoa.
Nicht, dass sie es gewollt hätte.
In diesen kurzen Momenten in seinen Armen hatte Sarah erkannt, dass ihr Geist unzuverlässig und ihr Fleisch ausgesprochen schwach war, wenn es um James Kerrick, Viscount Straithe ging. Und sie war ein wenig pikiert gewesen darüber, dass der unberechenbare Kapitän dieses Schiffes nicht einmal versuchte, ihren Widerstand zu überwinden.
Nicht, dass sie es gewollt hätte!
Sarah seufzte über ihre widersprüchlichen Gefühle und lächelte dem ersten Maat noch einmal zu. "Ich fürchte, er hat mir noch nicht verziehen."
"Ja, er ist ein wenig verdrießlich in der letzten Zeit", stimmte Burke zu.
Verdrießlich? Nun, vermutlich konnte man das distanzierte Wesen des Kapitäns so nennen. Wäre sie nicht gelegentlich seinem Blick begegnet, bei dem jedes Mal jeder ihrer Nerven aufs Äußerste gespannt war, so hätte sie sich vielleicht selbst einreden können, dass es seine heißen Küsse nach dem Kampf nur in ihrer Einbildung gegeben hatte.
Sie blickte über das Deck hinweg dorthin, wo er an der Reling stand. In seinem weiten weißen Hemd und den eng sitzenden Hosen, die sich fest um seine muskulösen Schenkel schmiegten, wirkte er wie ein Riese neben dem schmächtigen chinesischen Lotsen. Er hatte den Blick auf die ferne Küste gerichtet und lauschte auf Wang Ers gestenreiche Beschreibungen.
Gleich darauf drehte der Kapitän sich um und ging quer über das Deck dorthin, wo Sarah mit gekreuzten Beinen unter ihrem Sonnendach saß.
"Wir nähern uns der Provinz Fukien", meinte er knapp.
"Fukien!"
Der Mandarin, der ihren Vater aus Macao fortgelockt hatte, residierte in Fukien.
Mit klopfendem Herzen stand
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