Historical Exklusiv Band 36
grauenhafte Geheul in der vergangenen Nacht ins Gedächtnis. Nachdenklich richtete sie sich auf. Genau diese Klagelaute hatten sie in der Nacht gehört, bevor das Haus der Witwe abgebrannt war. Jetzt gab es wieder eine Tote. Konnte es denn sein …?
Nein, bestimmt nicht. Catherine ließ sich erleichtert gegen die Sofakissen sinken. Gewiss war es ein Zufall. Aber sie wurde den Gedanken nicht mehr los. Wo war Charles? Auf einmal hatte sie das Bedürfnis, mit ihm zu reden, seine vernünftige, beruhigende Stimme zu hören. Warum war er nicht in ihr Zimmer gekommen?
Sie blickte zur Uhr auf dem Kaminsims. Es war schon sehr spät. Catherine stand auf und ging einige Male ungeduldig im Zimmer hin und her, was wenig half, denn Warten war nun einmal nicht ihre Stärke. Also beschloss sie, selbst den ersten Schritt zu tun. Warum sollte sie eigentlich immer nur dasitzen und auf ihn warten? Schließlich war dies ebenso ihr Haus.
Sie band die Schärpe ihres Negligés fester und öffnete die Verbindungstür, die zu Charles’ Ankleidezimmer und von dort in sein Schlafzimmer führte. Das Ankleidezimmer roch nach Leder. Dazu kamen noch die Gerüche von Wolle und Wäschestärke und dieser besondere Duft, der Charles zu eigen war.
Versonnen blieb Catherine einen Augenblick stehen und wunderte sich, warum sie bisher niemals dieses Zimmer betreten hatte. Zum einen natürlich, weil Charles stets nach dem Abendessen in ihr Zimmer kam. Aber es steckte noch mehr dahinter. Der wahre Grund war, dass sie sich in diesem Haus immer noch wie ein Gast vorkam, der auf Einladung Seiner Lordschaft hier wohnte. Ja, das musste es sein. Sie straffte die Schultern und näherte sich der Schlafzimmertür.
Vorsichtig klopfte sie. Als keine Antwort kam, versuchte sie es mit lauterem Pochen. Nichts. Alles blieb still. Catherine drückte die Türklinke hinunter, öffnete behutsam die Tür und warf einen Blick in das geräumige Zimmer.
Mit einem Mal brach sie in schallendes Gelächter aus. Grau! Fast die gesamte Einrichtung war in Grau gehalten. Wurde Charles denn dieser Farbe niemals überdrüssig? Nur die schweren Seidensatinvorhänge vor den Fenstern und an dem riesigen Bett glänzten in einem gedämpften Purpurrot. Kostbares dunkles Edelholz schimmerte sanft im Kerzenlicht und bildete einen wunderbaren Kontrast zu dem kühlen Grau. Ein sehr behagliches Zimmer.
Aber auch ein leeres Zimmer. Seine Lordschaft jedenfalls war hier nicht zu finden. Als Catherine sah, dass Hardraw die Bettdecke ordentlich zur Seite geschlagen hatte, obwohl er doch genau wusste, dass Seine Lordschaft seit Wochen nicht mehr in diesem Bett geschlafen hatte, huschte ein Lächeln über ihr Gesicht.
Catherine durchquerte das Zimmer bis zur Tür des Salons, den sie gemeinsam benutzten. Er würde wohl noch in der Bibliothek sein.
Sie nahm den Kerzenleuchter vom Nachttisch und machte sich, ein wenig zitternd vor Kälte, auf den Weg über den zugigen Flur zum Treppenhaus. Anscheinend hatten die Diener alle Kerzen gelöscht, die Kaminfeuer mit Asche bedeckt und waren selbst zu Bett gegangen.
Das weitläufige Haus, bei Tageslicht so einladend und voller Eleganz, wirkte im Dunkeln kahl und hatte etwas von einer Höhle. Ihre überreizten Nerven begannen, ihr Streiche zu spielen. Unbekannte Wesen schienen in finsteren Türeingängen zu lauern.
Hatte sie nicht ein schwaches Seufzen gehört? Ein Luftzug streifte sie. Ihr war, als würde leises Geflüster an ihr Ohr dringen und die Wände drohend näher rücken. Sie schauderte. Jeden Moment rechnete sie damit, das grässliche Geheul abermals zu hören.
Wovor fürchtete sie sich denn eigentlich? Das war schließlich nur ein Haus. Allerdings ein sehr großes, sehr dunkles Haus. Sie beschleunigte ihre Schritte, bis sie beinahe rannte. Schließlich hatte sie Charles’ Arbeitszimmer erreicht. Sie klopfte und lauschte.
„Ja?“
Beim Klang der wohlbekannten Stimme atmete Catherine erleichtert auf. Sie kam sich ein wenig töricht vor und wartete einen Augenblick, um wieder zu Atem zu kommen, ehe sie die Tür öffnete und in das düstere Zimmer trat. Undeutlich war ein Schatten am Fenster zu erkennen. „Ah, da bist du ja. Bist du allein?“
„Gewiss.“
„Dann ist es ja gut. Ich bin nämlich fast entkleidet. Warum sitzt du denn im Dunkeln?“ Catherine stellte die Kerze auf den Ständer neben der Tür und tastete sich vorsichtig am Schreibtisch und mehreren Stühlen entlang, ehe sie vor Charles stand, der in einem Ohrensessel saß und in
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