Historical Gold Band 251
heraus. Einen Augenblick fragte sie sich, ob auch sie allmählich die Fähigkeit verlor, Zeichen zu entschlüsseln. Dann wurde ihr klar, dass sie auf die Rückseite blickte, wo etwas Tinte von der Vorderseite durchgedrungen war. Sie drehte das Blatt Papier um und starrte auf die enge Schrift. Doch sie verstand nicht, was da geschrieben stand. Es war fast, als hätte ihr Hirn vergessen, wie man las, als entstammten die Zeichen einem so fremden System, dass sie nicht verstehen konnte, was sie besagten.
„Was ist das? Warum … warum steht da oben Margaret Lowell?“
„Deswegen bin ich letzte Woche nach London gefahren. Und deshalb habe ich mich die letzten Tage so aufgeregt, weil ich auf einen Eilboten gewartet habe, der einfach nicht kommen wollte. Es ist eine Quittung aus dem Büro des Erzbischofs von Canterbury in London, wo ich um eine Heiratslizenz ersucht habe.“
„Die Quittung wurde vor neun Tagen ausgestellt.“
„Ich weiß. Und daran kannst du auch erkennen, dass ich die Wahrheit sage, ganz egal, wie sehr dein Bruder auch bemüht ist, Zweifel zu säen. Ich will dich schon seit Wochen heiraten. Der große Vorteil, den ich mir von einer Ehe mit dir verspreche, ist der, dass ich dann mit dir verheiratet wäre. Ich habe dir gesagt, dass es keine Rolle spielt, wer deine Eltern waren. Und damit war es mir ernst. Ich will dich. Alles andere ist egal.“
Doch all dies andere bedrängte sie nun von allen Seiten. „Ash.“ Ihre Stimme drohte sich in Tränen aufzulösen. Sie schluckte den Kloß in ihrer Kehle hinunter, die aufsteigenden Tränen. „Du brichst mir das Herz.“
Dieser Ausdruck war ihr nie recht begreiflich gewesen, höchstens als Bild. Doch es zerriss sie wirklich in zwei Hälften. Mit Ash zu schlafen war eine kleine Geste der Auflehnung gewesen – eine Erklärung, dass ihr Körper ihr gehörte, ebenso wie ihr Leben und ihre Tugend. Dass sie sich selbst gehörte und dass niemand ihr diese Gewissheit nehmen konnte.
Aber er bat sie nicht länger um eine kleine Geste der Auflehnung. Er bat sie um ihre Loyalität. In einem hatte ihr Bruder recht: Wenn sie Ash heiratete, wäre das ein allumfassender Verrat. Nicht an irgendwelchen unglückseligen Regeln, welche die Gesellschaft ihnen aufzwängte, sondern an ihren Brüdern, ihrer Mutter . Wenn sie ihn heiratete, könnten Richard und Edmund in ihren Bemühungen um Legitimation scheitern. Sie wären Außenseiter, konnten nur von den verschwindend geringen Anteilen des Vermögens leben, die nicht fideikommissrechtlich gebunden waren.
Sie hatte sich gelobt, dass ihr Verhalten edel sein würde, selbst wenn sie nicht länger als Edelfrau betrachtet wurde. Er bat sie, egoistisch zu handeln, nur an ihr eigenes zukünftiges Glück zu denken. Wenn sie das täte, wäre sie auch nicht besser als ihr Vater.
Er verlangte mehr von ihr, als sie geben konnte.
„Jetzt verstehe ich auch“, sagte er, „warum das mit der Heiratserlaubnis so lange gedauert hat. Im Büro des Erzbischofs wollte man erst eine schicken, wenn feststand, dass du berechtigt bist zu heiraten, und in der Gemeinde fanden sich keinerlei Unterlagen von einer Miss Margaret Lowell.“
„Nein, natürlich nicht.“
„Nun, dann stelle ich den Antrag eben noch einmal.“
So hatte sie sich die Aufdeckung der Wahrheit nicht vorgestellt. Es hätte leichter sein sollen. Ihre Enthüllungen sollten seinem Begehren den Todesstoß versetzen. Dann hätte sie niemals zwischen einer Zukunft mit ihm und dem Überleben ihrer Brüder wählen müssen. Was für ein Mensch wäre sie, wenn sie die beiden im Stich ließ?
Was für ein Mensch wäre sie, wenn sie ihn verließ?
Sie hatte gelernt, den Beschimpfungen ihres Vaters standzuhalten. Aber diese Sanftheit wurde ihr zum Verhängnis. In ihrem Wortschatz gab es keinen Ausdruck für eine derartige Freundlichkeit, in ihrem Verständnis keinen Platz, sie zu erfassen.
Sie schüttelte den Kopf. „Nein, Ash. Ich weiß nicht. Ich weiß einfach nicht.“Er stieß einen tiefen Seufzer aus und nahm sie in die Arme. „Es tut mir leid“, flüsterte er.
Vor einiger Zeit hatte sie einmal gewollt, dass es ihm leidtat. Sie wollte ihn bestrafen, ihm das Herz aus dem Leib reißen und darauf herumtrampeln, damit er wusste, wie es sich anfühlte, wenn die Welt um einen herum zusammenbrach.
Sie hatte sich getäuscht. Es brachte sie um. Weil sein Bedauern nicht ihm selbst galt, sondern ihr.
Seine Freundlichkeit raubte ihr die kalte Empörung, die sie die ganze Zeit befeuert
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