Historical Gold Band 251
im Regen zu fangen. Er wusste kaum noch, wofür jedes Symbol stand. Sie zu einem sinnvollen Ganzen zusammenzufügen, schien ihm unmöglich.
Er brauchte volle zwei Minuten, um sich die Worte Erstes-Kapitel-Keuschheit-ist zu erschließen.
Bevor er herausfinden konnte, was Keuschheit war, hörte er hinter sich Schritte.
„Ash?“
Margarets Stimme. Ach, zum Teufel. Ash holte tief Luft, während er zwischen Hoffnung und Verzweiflung schwankte. Schon, wenn er allein war, bedurfte es eines Wunders, dass er sich durch die erste Seite von Marks Buch kämpfte. Wenn Margaret dabei war und ihn mit ihrer anmutigen Gestalt und der Verheißung neuer Küsse ablenkte, würde es ihm nie gelingen. Er schloss die Augen, um die Kopfschmerzen abzuwehren, die immer noch hinter seinen Augen lauerten – und auch, um diese eigenartige Lebendigkeit zu verscheuchen, die er in ihrer Nähe verspürte.
Er konnte hören, wie sie hinter ihm atmete, stellte sich vor, wie sich ihre Brust dabei hob und senkte.
Die Augen zu schließen half gar nichts. Er konnte sich noch genau daran erinnern, wie sie am Abend zuvor geschmeckt hatte – ihr Mund vom Brandy aufgeheizt, mit irgendeiner blumigen Note, während sie über ihn gebeugt stand und sich an ihn presste. Im Hier und Jetzt berührte ihre Hand nun die Seine, und er sah sie widerstrebend an.
Doch obwohl er sich auf ihren Anblick gefasst gemacht hatte, raubte er ihm den Atem. Ihre Lippen waren rot und voll und luden zum Küssen ein. Eine Handvoll Küsse hatte einfach nicht gereicht. Auf ihren rosigen Wangen zeigte sich hier und da eine Sommersprosse. Ihr Haar war geflochten und züchtig hochgesteckt, doch sie hatte die Lippen ein wenig gespitzt, was ihr einen etwas frivolen Anstrich gab, der in ihm sogleich die Vorstellung weckte, wie er die Schnürung ihres Mieders löste, die Nadeln aus ihren Locken zog …
Verdammt. Er war schon abgelenkt.
„Das“, sagte sie und tippte auf die Seiten in seiner Hand, „ist das Buch deines Bruders. Er hat vorhin erwähnt, dass du die Abschrift bekommen hast. Er hat nervös gewirkt.“
Ash fächerte die Seiten auf. „Wie du siehst“, murmelte er, „habe ich es schon so weit geschafft.“
Sie biss sich auf die Lippe. „Ich dachte, ich könnte dir vielleicht vorlesen.“
Das Blut gefror Ash förmlich in den Adern. Seine Gedanken kamen abrupt zum Stillstand. Die Kehle wurde ihm trocken, und er hustete. Sie sah auf ihn hinab.
Als er nicht antwortete, betrachtete sie ihn aus den Augenwinkeln. „Ach, nun habe ich dich gekränkt. Ich wollte damit doch nicht andeuten … es tut mir leid …“
„Nein“, stieß er hervor, während sie noch ein Stück von ihm abrückte. „Ich meine, du brauchst dich nicht zu entschuldigen.“ Er war wie betäubt, zu betäubt, um eine Antwort zu formulieren. Aber er griff nach ihrer Hand. Ihre Finger schlangen sich ineinander, und sein fester Druck sagte ihr, was er nicht über die Lippen bekam. Er verriet all seine aufgestaute Hilflosigkeit, seine geheime Schande.
„Ich habe es Mark versprochen“, erklärte er verlegen. Seine Unfähigkeit zu lesen war sein großes, schuldbeladenes Geheimnis, das er um jeden Preis unter einem Berg aus Lügen und Ausflüchten verstecken musste. Ausrede um Ausrede hatte er erfunden, hatte Tausende Male seinen engen Zeitplan vorgeschoben und seine Angestellten angewiesen, ihm von anfallenden Schriftstücken eine mündliche Zusammenfassung zu geben.
Aber das … das hier konnte er nicht verbergen.
Sie hatte in seinen dunkelsten Abgrund geblickt und geflüstert, er sei nicht allein. Vielleicht war es das gewesen, was er an jenem schönen Morgen empfand, als er sie zum ersten Mal auf der Treppe gesehen hatte. Er spürte einen Widerhall dieses Augenblicks – als wäre er auf irgendeine Art endlich heimgekommen.
Er nickte Margaret zu. „Also schön“, sagte er. Er wusste, dass seine Stimme barsch klang, beinahe gefühllos, aber das lag daran, dass sie keine Ahnung hatte, wie lang er diese Bürde schon ganz allein getragen hatte. Die Vorstellung, er könnte jemandem dieses Geheimnis anvertrauen – und dass dieser jemand dann auch noch Hilfe anbot und so die Kluft zwischen Ash und seinen Brüdern überbrücken half … Das bekam er einfach nicht in seinen Kopf. Wenn er sich hinter einer gewissen Ruppigkeit versteckte, lag das daran, dass seine Kehle ganz rau geworden war, als stünde er kurz davor, in Tränen auszubrechen.
Nicht, dass er je weinte.
Das wäre ja lächerlich gewesen.
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