HISTORICAL JUBILÄUM Band 03
den Himmel reckte. „Was macht sie da, James?“
„Sie guckt, ob ein Blitz einschlägt.“
Während die beiden Jungen sich angrinsten, stieß das Kindermädchen einen Schrei aus, raffte die Röcke und rannte, so schnell sie nur konnte, davon. Minuten später verließ sie völlig außer Atem und mit verschmutztem Rocksaum die Anhöhe und zerrte die sechsjährige Bethany hinter sich her.
Als sie endlich wieder in der Lage war zu sprechen, fragte sie das Mädchen: „Und wo ist Darcy?“
„Da draußen.“ Bethany zeigte auf die dunklen, aufgewühlten Wellen, die sich an der Küste brachen.
„Was soll das heißen? Sie ist doch nicht etwa im Meer?“
„Doch.“
Dem Kindermädchen blieb beinahe das Herz stehen. „Wer ist bei ihr?“
„Niemand, Winnie.“
Die Augen der armen Frau weiteten sich vor Angst. „Deine kleine Schwester ist allein? Im Meer? Während ein Unwetter naht?“
Als das Mädchen nickte, wurde Miss Mellon so bleich wie ihre Röcke und rannte in Richtung des Hauses. „Himmel!“, rief sie. „Newt! Newton Findlay! Ihr müsst sofort kommen! Unsere kleine Darcy ist da draußen in dem Sturm!“
Der alte Seemann hörte das Rufen und trat aus dem Schuppen heraus, wo er gerade einige Segel flickte. „Was ist mit unserer Darcy?“
In ihrem grenzenlosen Entsetzen vermochte das Kindermädchen kaum ein Wort hervorzubringen, und so stammelte sie mit erstickter Stimme: „Unsere Kleine hat das Boot genommen, Newton. Seht doch!“ Fassungslos starrten die beiden auf die aufgewühlte See. Das winzige Boot, das wie eine Nussschale hin und her geworfen wurde, war kaum noch zu erkennen.
Mehr hinkend als rennend stürmte der alte Seemann los, so schnell sein Holzbein es zuließ. Doch lange bevor er das Ufer erreichte, hatte Gray Barton bereits sein Hemd abgestreift und war in die kalten Fluten des Atlantiks gesprungen.
„Oh, gütiger Himmel!“ Mit nassen Röcken stand Miss Mellon in der schäumenden Brandung; das Wasser lief ihr in die hohen Lederstiefel. Sie umklammerte den Arm des alten Matrosen so fest, dass ihre Nägel sich in seine Haut bohrten.
Hilflos mussten die Erwachsenen mit ansehen, wie der Junge von einer Welle nach der anderen verschluckt wurde. Jedes Mal, wenn er verschwunden war, glaubten sie mit Sicherheit, er sei ertrunken. Doch immer dann, wenn sie schon alle Hoffnung fahren ließen, erblickten sie ihn wieder und beobachteten, wie er mutig gegen die Wellen ankämpfte, die mittlerweile so hoch waren wie die Reling eines Schiffes.
„O Newton.“ Tränen strömten über Miss Mellons Wangen und nahmen ihr die Sicht. „Das ist alles meine Schuld. Ich habe es zugelassen, dass unsere Kleine ertrinkt. Und jetzt wird auch noch dieser tapfere Junge sein Leben lassen.“
„So beruhigt Euch doch.“ Der alte Seemann tätschelte ihr die Hand, während er unverwandt das klägliche Vorankommen des Jungen verfolgte. „Niemanden trifft irgendeine Schuld. Das Mädchen liebt nun einmal das Meer. Und sie ist zu jung, um die Gefahr zu sehen.“
„Ja. Sie kennt überhaupt keine Angst.“ Die Lippen der armen Frau bebten, und ihr Weinen wurde heftiger. „Auch der Junge nicht. Wie soll ich es jemals Captain Lambert beibringen? Zuerst hat er seine liebe Frau verloren. Und jetzt seine Kleine. Und er hat sie in meine Obhut gegeben.“
„Pst“, versuchte Newton das Kindermädchen zu beruhigen. „Noch besteht die Möglichkeit, dass der Junge sie rechtzeitig erreicht.“ Doch der Stimme des alten Mannes fehlte jegliche Überzeugungskraft. Er traute nur wenigen hartgesottenen Seeleuten zu, gegen solch hohe Wellen anzukämpfen. Und selbst wenn es dem Burschen gelänge, das Boot zu erreichen, wie sollte er es in dieser rauen See sicher zurück an Land bringen?
Der Himmel verdüsterte sich zusehends, und die Kinder scharten sich schutzsuchend um ihr Kindermädchen. Sie waren ungewohnt schweigsam, da sie den Ernst der Lage erkannten.
„Wird Darcy sterben, Winnie?“, fragte Ambrosia leise.
Zum ersten Mal in ihrem Leben fand Miss Mellon keine Kraft, um die Frage zu verneinen.
„Wird sie sterben, Newt?“ Mit ängstlicher Miene zupfte James den alten Mann am Ärmel.
Newton war nicht in der Lage zu sprechen. Er legte den Arm um den Jungen und starrte weiterhin in die Ferne, obwohl es inzwischen so dunkel geworden war, dass man weder das Boot noch Gray in den Fluten sehen konnte.
Von ihren Gefühlen überwältigt, sank Miss Mellon im Wasser auf die Knie, drückte Ambrosia und Bethany gegen ihre
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