HISTORICAL JUBILÄUM Band 03
hilflos nachschauten.
Darcy vergoss keine Tränen und würde es auch in Zukunft nicht tun. Sie ließ es einfach nicht zu. Wenn sie den Tränen freien Lauf gewährte und sich dem Schmerz hingäbe, würde sie sich eingestehen, dass ihr geliebter Gray tot war. Und das wollte sie um keinen Preis.
Stattdessen kehrte sie auf den großen Söller zurück, schritt auf und ab und sah hinaus auf die See, um zu warten. Er würde wiederkommen. Vor ihrem geistigen Auge konnte sie die hohen Masten, die leuchtenden Segel und das kleine Boot sehen, das die Mannschaft an Land brachte. Und sie stellte sich Gray vor, wie er über den Strand schritt und wie sein wundervolles Lächeln das hübsche, markante Gesicht erstrahlen ließ, wenn er sie in die kraftvollen Arme schloss und sich mit ihr im Kreise drehte.
Bei dieser Vorstellung schloss sie die Augen und lächelte.
Sie liebte ihn, hatte ihn immer geliebt. Und stets hatte sie gleichsam mit einem sechsten Sinn gespürt, dass sie ihr Leben gemeinsam verbringen würden. Sie war nur für ihn allein geboren worden. Und wenn er aus dem Leben geschieden wäre, hätte sie es irgendwie gewusst. Sie hätte gespürt, wenn seine Seele an ihrer vorbeigeschwebt wäre.
Als die Dunkelheit sich wie eine Decke über das Wasser legte, frischte der Wind auf. Erst dann hörte sie es. Ein leises Stöhnen, das ein Prickeln in ihrem Nacken auslöste.
Newton hatte ihr immer erzählt, die See sei eine Frau. Eine Frau, die den Matrosen etwas zurief und viele von ihnen dazu brachte, ihr Leben für sie aufs Spiel zu setzen. Aber das, was sie jetzt vernahm, war die leise, gequälte Stimme eines Mannes, der offenbar Schmerzen litt.
Sie hielt sich die Ohren zu und sank schluchzend auf die Knie. „O Gray. Bitte, Gray. Nein, ich kann es nicht ertragen. Du musst aufhören, bevor du mir mein armes Herz brichst.“
Doch die Klagelaute wollten nicht aufhören, rissen an ihrem Herzen und versengten ihren Geist und ihre Seele. Erschüttert sackte sie an dem Geländer zusammen und verlor die Besinnung.
Es war Newton, der Darcy fand und die breite Treppe hinunter in den Salon brachte.
„Oh, gütiger Himmel.“ Miss Mellon erblickte die reglose, blasse Frau und deutete auf die Chaiselongue. „Bring sie hierher, Newt.“
„Ja.“ Äußerst behutsam legte der alte Mann seine Last ab, als ob er Angst hätte, Darcy könne wie Kristallglas zerbrechen.
„Geoffrey“, rief die alte Frau. „Wir benötigen etwas von dem Whisky.“
„Das denke ich auch.“ Captain Lambert füllte ein wenig in ein großes Glas und führte es an die Lippen seiner Enkelin.
Als ihr die scharfe Flüssigkeit die Kehle hinunterrann, hustete Darcy und rang nach Luft. Dann öffnete sie die Augen.
„Was ist bloß geschehen? Deine Finger sind ja eiskalt.“ Ambrosia begann, die Hände ihrer Schwester zu reiben.
„Ich hörte …“ Darcy schluckte. „Ich hörte, wie Gray nach mir rief. Er leidet furchtbare Schmerzen.“
Ambrosia warf den anderen einen flüchtigen Blick zu, die mit besorgten Mienen auf Darcy hinabschauten. „Du hast bloß geglaubt, ihn zu hören.“
„Nein.“ Heftig schüttelte Darcy den Kopf. „Ich habe ihn gehört. Genauso deutlich, wie ich jetzt euch höre.“ Sie wandte sich Newton zu. „Es stimmt, Newt.“
„Mädchen.“ Er legte seine zerfurchte Hand auf die ihre. „Du weißt, was das Meer uns vorzugaukeln vermag. Die See kann seufzen und stöhnen und sogar sprechen, wenn sie es darauf anlegt. Aber es ist die See, die spricht. Nicht Gray.“
„Es war Gray.“ Eine große glitzernde Träne löste sich aus Darcys Augenwinkel und lief ihr über die Wange. „Er hat Schmerzen. Er braucht mich. Doch ich weiß nicht, wie ich ihm helfen soll.“
„Beruhige dich.“ Geoffrey Lambert drückte ihr das Whiskyglas in die Hand. „Ich möchte, dass du das trinkst. Alles. Es wird dich aufwärmen und dich gut schlafen lassen, mein Mädchen.“
„Ich will aber nicht schlafen, Großvater.“
„Dann trink es für mich.“ Er setzte sich neben sie auf das Sofa, umschloss ihre Hand und führte das Glas an ihre Lippen.
Sie trank und verspürte ein Brennen in ihrem Hals, als der Whisky sich wie Feuer seinen Weg bahnte. Schon nach kurzer Zeit legte sich das Zittern, das sie zuvor erfasst hatte. Jetzt erst nahm sie wahr, dass die anderen, die nach wie vor um die Chaiselongue herumstanden, sich besorgte Blicke zuwarfen.
„Mir … geht es wieder gut. Ihr könnt euch nun alle zu Bett begeben.“ „Nicht, bevor du dich
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