Historical My Lady Spezial Band 1 (German Edition)
Erinnerung an jenen schrecklichen Tag war lebendiger denn je. Konnte er ihr von seiner Tat erzählen? Konnte er sie ihr anvertrauen und dann den Abscheu und das Entsetzen auf ihrem ausdrucksvollen Gesicht ertragen? Andererseits wusste er, dass ihm keine andere Wahl blieb, wenn er wenigstens vor ihr die Maske herunterreißen wollte, die er der übrigen Welt zeigte.
Er senkte den Blick. „Es war bei Waterloo. Der Krieg mit Napoleon war fast vorüber. Das ganze jämmerliche Chaos war vorüber. Wir befanden uns in einem Wald. Es war nach einem besonders blutigen Scharmützel, als wir …“
„Wir?“, hakte sie sanft nach.
„Meine Männer, ich und … und ein weiterer Offizier.“
„Mein Cousin Simon, nicht wahr?“, erkannte sie plötzlich.
Lucian schloss für einen Moment die Augen. „Ja“, brachte er rau hervor. „Er hatte diese ganze Hölle überlebt. Er hatte jede Schlacht überlebt. Und jetzt, da es fast vorbei war … Wie aus dem Nichts tauchte ein französischer Kavallerieoffizier vor uns auf. Er preschte einfach mit hoch erhobenem Säbel heran und hieb nach links und rechts aus, nur auf Zerstörung aus. Einige der Männer gingen sofort zu Boden. Unter ihnen auch Simon.“ Einen Moment schloss er die Augen. „Es war zu viel, Grace. Simon einfach daliegen zu sehen, die Augen aufgerissen und blicklos gen Himmel gerichtet, die klaffende Wunde …“ Er schüttelte den Kopf. „Ich überlegte nicht lange, sondern zerrte den Franzosen einfach vom Pferd herunter und fing an, mit meinem Säbel auf ihn einzudreschen. Vor den Augen meiner Männer stieß ich wieder und wieder auf ihn ein, bis meine Wut abgeklungen war!“
Grace konnte nicht verbergen, wie sehr seine Geschichte sie erschütterte. Sie war entsetzt und bestürzt. Aber diese Gefühle richteten sich nicht gegen Lucian – niemals gegen ihn. Er hatte gehandelt, ohne zu überlegen, überwältigt von seinem Schmerz. Und er bezahlte den Preis dafür, indem er sich jetzt, wieder im Kreise seiner Familie, keine Gefühle mehr erlaubt hatte.
Bis sie in sein Leben gekommen war. In den letzten Wochen hatte sie ihn wütend erlebt, aufgebracht, sanft, freundlich, besitzergreifend. Sogar ein wenig eifersüchtig – glaubte sie jedenfalls – an jenem Abend auf Lady Humbers’ Ball, als er mit finsterer Miene beobachtet hatte, wie Sir Rupert Enderby und Lord Gideon Grayson ihr den Hof machten. Und vor allem war ihr nicht entgangen, wie sehr er sie begehrte.
Sanft legte sie ihm die Hand an die Wange und konnte spüren, dass er fest die Zähne zusammenbiss. „Lucian, ich möchte nicht vorgeben, dass ich deine Gefühle an jenem schrecklichen Tag verstehen kann. Aber ich akzeptiere sie.“
„Wie könntest du?“, sagte er rau. „Erfülle ich dich nicht mit Widerwillen, mit Abscheu?“
Sie schüttelte heftig den Kopf. „Ich weiß, du bist ein aufrechter, ehrenhafter Mann. Du bist und bleibst in meinen Augen immer ein Held, so wie auch in den Augen vieler Menschen. Ich bewundere alles an dir“, schloss sie leise.
„Grace“, stöhnte er ungläubig.
„Und du bist auch“, fuhr sie entschlossen fort, um seine Gedanken von Tod und Zerstörung abzulenken, „ein Mann, der seinen Freunden treu bleibt, selbst wenn alle Anzeichen gegen sie sprechen. Habe ich recht?“
Er verzog das Gesicht zu einer Grimasse. „Du beziehst dich auf Darius.“
„Ja, ich beziehe mich auf Darius. Ich habe mich in ihm getäuscht, nicht wahr?“
„Grace“, protestierte er verzweifelt. „Ich habe mein Wort gegeben, ihm sogar geschworen, dass ich gewisse Dinge mit niemandem bereden werde.“
„Schön.“ Sie nickte. „Dann werde ich dir sagen, was ich vermute. Du kannst einfach nur zuhören, solltest du das vorziehen.“
Er seufzte. „Ich ziehe es keinesfalls vor, aber mir bleibt wohl kaum eine Wahl.“
„Sagst du mir bitte zuerst, ob Francis je wieder nach Winston Hall zurückkehren wird?“
„Ich breche mein Wort nicht, wenn ich verrate, dass er niemals zurückkehren wird.“ Er senkte für einen Moment den Blick. „Francis hat beschlossen, ins Ausland zu gehen. Seiner Gesundheit zuliebe.“ Sein Lächeln war grimmig.
„Ich verstehe.“ Sie nickte langsam.
„Wirklich?“
„Ich denke schon. Zwar weiß ich nicht genau, wo die Geschichte beginnt. Vielleicht mit dem Tod meines Cousins?“
Er erstarrte. „Vielleicht.“
„Sein Tod hat vielleicht alle weiteren Ereignisse ausgelöst?“ Als Lucian nicht antwortete, nahm sie es einfach als Bestätigung. „Wie
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