Historical Saison Band 12
die Sachen in dessen Schreibtisch durchgegangen war. Zwei Tage vor der Hochzeit hatte sie selbst eine solche herausgerissene Seite entdeckt. Sie war aus dem Tagebuch gefallen, als sie es einpacken wollte, um es mit nach Channings zu nehmen. Der Eintrag datierte von Anfang Juni, einige Wochen nach Johnnys Tod, und bewies, dass Richard Johnny getötet hatte. Immer wieder hatte sie die Zeilen gelesen, nicht gewillt, ihren Augen zu trauen. Die Worte hatten sich förmlich in ihr Gedächtnis eingebrannt …
Bis heute hatte ich angenommen, Richard Deverell sei durch und durch ein Ehrenmann. Ich kann nicht fassen, dass er, der für mich wie ein zweiter Sohn ist, uns angelogen haben soll. Aber wie es scheint, war er nicht nur bei Johnnys Tod zugegen – etwas, das er bisher immer bestritten hat –, ganz offensichtlich hat er auch die Beweise manipuliert, damit es so aussieht, als hätte sich versehentlich ein Schuss aus Johnnys Waffe gelöst und ihn getroffen. Welchen Grund könnte Richard haben, einen Unfall vorzutäuschen? Dass mein Sohn Freitod begangen haben soll, kann ich nicht glauben. Hat es einen Unfall gegeben, bei dem Richard versehentlich Johnny getötet hat? Hat er die Wahrheit verschleiert, um seine Haut zu retten? Falls dem so ist, wie kann er da noch ruhigen Gewissens weiterleben? Oder rechnet er gar mit seinem baldigen Tod? Sein Regiment bricht morgen nach Brüssel auf. Die Kämpfe können dort jederzeit beginnen. Ich werde nach ihm schicken lassen. Ich muss herausfinden, was tatsächlich passiert ist, bevor er morgen abreist.
Etwas weiter unten auf der Seite stand dann die Schreckensnachricht. Ganz offensichtlich war ihr Vater voller Verzweiflung gewesen, als er die Zeilen schrieb. Die Schrift sah fahrig aus, aber die Bedeutung der Worte war ebenso klar wie furchtbar.
Mir ist das Herz schwer. Ich habe mit Richard gesprochen. Er gibt es zu, will mir aber keinen Grund nennen. Was soll ich nun denken? Mein armer Junge! Mein armer, armer Junge!
Bereits in den Wochen davor hatte Lexi kaum Schlaf gefunden, immerzu hatte sie der Gedanke verfolgt, dass Richard ihren Vater verraten hatte und sie ihn ehelichen musste, um Rawdon zu retten. Die Entdeckung dieser Seite brachte sie jedoch an den Rand eines Zusammenbruchs und ließ sie verzweifeln. Unfall oder nicht, Richard hatte ihren Bruder getötet, und da er nicht bei Waterloo gefallen war, war es nun an ihr, den Tod ihres Bruders zu rächen. Voller Trauer und Wut hatte sie ihren Plan geschmiedet, die Pistole ihres Vaters in der Sakristei versteckt und den Augenblick herbeigesehnt, in dem sie Richard für seine Taten büßen lassen wollte. Inzwischen zweifelte sie aber, dass sie je hätte auf ihn schießen können, selbst wenn er ihr diesen Kompromiss nicht angeboten hätte.
Auf dem Rückweg nach Channings wurde sich Lexi bewusst, dass sie von Glück sagen konnte, diesen Handel mit Richard abgeschlossen zu haben. Inzwischen war sie sich sicher, dass er die Wahrheit über das Kartenspiel mit ihrem Vater gesagt hatte. Es gab einen Erpresser, den er zur Strecke hatte bringen wollen. Sein Vorschlag in der Kirche hatte sie vor einer Wahnsinnstat bewahrt, denn hätte sie Richard wie geplant erschossen, wäre sie nicht nur eine Mörderin. Nein, der Peiniger ihres Vaters würde zudem ungestraft davonkommen.
Verstohlen schaute sie zu Richard. Sie hatte sich schon einmal in ihm getäuscht. Traf ihn womöglich doch keine Schuld an Johnnys Tod? Wunschdenken, dachte sie traurig. Der Tagebucheintrag war unmissverständlich. Es würde Richard sicherlich schwerfallen, ihr diese Zeilen zu erklären, wenn er überhaupt gewillt war, ihr eine Erklärung abzugeben.
Wieder fragte sie sich, wo er wohl die Seite, die in seiner Tasche verschwunden war, gefunden hatte. Sie war sich sicher, dass sie zuvor nicht im Schreibtisch gelegen hatte. Von Neugier angestachelt, beschloss sie, möglichst bald herauszufinden, was darauf geschrieben stand.
Den nächsten Tag verbrachte Richard außer Haus, und Lexi nutzte die Gelegenheit, im Tagebuch ihres Vaters zu stöbern. Sie blätterte zu den Einträgen von Anfang Juni. Dort fehlte eine der Seiten, wie man an dem ungleichmäßigen Rand erkennen konnte. Sie wusste, wo sich diese Seite befand – versteckt im Deckel ihrer Schmuckschatulle. Sie blätterte weiter und fand einen Monat später, Anfang Juli, wieder einen abgerissenen Rand. War die fehlende Seite etwa diejenige, die Richard gefunden hatte? Vermutlich ja, denn als sie das Tagebuch
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