Historical Saison Band 12
blauen, grünen, roten und gelben Tupfern. Man hätte meinen können, er sei soeben einem der Heiligenbilder im Westfenster entstiegen.
Auch auf dem Bräutigam ruhte das Sonnenlicht, aber wie ein Heiliger wirkte er gewiss nicht. Von stattlicher Größe und einen Hauch Arroganz ausstrahlend zeigte sich Richard Deverell wie gewohnt als Mann von Welt. Sein schwarzer Frack und die eng anliegenden Pantalons stammten von einem erstklassigen Schneider. Auch sein gestärktes, elegantes Krawattentuch und das schneeweiße Hemd, das er unter der ebenso weißen Weste trug, ließen auf den ersten Blick erkennen, dass er den höchsten Kreisen der englischen Gesellschaft entstammte. Seine schlanke, breitschultrige, athletische Figur verdankte er indes nicht dem Walzertanzen in Londoner Ballsälen, sondern vielmehr seinem vierjährigen Einsatz im Krieg gegen Napoleon. Lange Tage hatte er im Sattel unter der spanischen Sonne verbracht. Davon zeugten seine gebräunte Haut und die feinen Linien, die sich in den Winkeln seiner kühlen grauen Augen abzeichneten. Über eine seiner Wangen zog sich eine Narbe – die beständige Erinnerung daran, dass er bei Waterloo dem Tod nur knapp entronnen war. Nicht allein deshalb hatte sich Richard Deverell den Ruf erworben, mit Fortuna im Bunde zu stehen, auch sein Glück am Spieltisch war legendär.
Von der Kirchenbank der Deverells musterte Richards Tante Lady Honoria Standish die Anwesenden mit kritischem Auge. Kein einziges Mitglied des ton hatte sich eingefunden. Allerdings bezweifelte sie, dass überhaupt Einladungen verschickt worden waren, da man den Vater der Braut erst vor Kurzem zu Grabe getragen hatte. Höchst bedauerlich, befand Lady Honoria, die sich für ihren Neffen eine imposantere Hochzeit gewünscht hätte, statt dieser bescheidenen Feier.
„Die Ehe ist die gottgegebene Institution zur Gründung einer Familie …“
Ja, das gefiel Lady Honoria. Sie freute sich darauf, wieder Kinder in Channings herumtollen zu sehen. Auf dem Anwesen herrschte schon viel zu lange eine Grabesruhe. Außerdem wurde es höchste Zeit, dass Richard einen Erben bekam. Es war schlicht undenkbar, dass die Besitztümer der Deverells nach seinem Ableben an irgendwelche entfernten Verwandten fielen, die sich zuvor nie hatten blicken lassen. Sie betrachtete das Brautpaar und nickte zufrieden. Nun, diese Sorgen musste sie sich jetzt nicht mehr machen. Alexandra Rawdon kam aus einer guten, gesunden Familie, und Richard stand in der Blüte seiner Manneskraft. Die Frauen lagen ihm zu Füßen, weshalb es Lady Honoria wenig wunderte, dass die kleine Rawdon seinen Antrag nur allzu gern angenommen hatte. Warum aber Richard ausgerechnet Lexi Rawdon erwählt hatte, blieb ihr ein Rätsel. Nun ja, Lexi war recht attraktiv, allerdings kannte Lady Honoria weitaus atemberaubendere Schönheiten – junge Damen aus guter Familie, die über Eleganz und Wohlstand verfügten und die ihre rechte Hand dafür hergeben würden, Lady Deverell zu werden. Jede einzelne von ihnen wäre geeigneter gewesen als Lexi, Herrin eines solch großen und bedeutenden Anwesens zu werden, wie es Channings war. Bedauerlicherweise hatte Lexi nie Wert darauf gelegt, die Tugenden einer kultivierten Dame zu erlernen. Sie war immer schon ein impulsiver, unbesonnener Wildfang gewesen, der mehr Gefallen daran gefunden hatte, mit dem älteren Bruder Johnny und Richard durch die Landschaft zu streifen.
In seiner Kindheit hatte Richard viel Zeit bei den Rawdons verbracht. Dort war ihm die Zuneigung zuteilgeworden, die ihm zu Hause verwehrt wurde. Er und Johnny waren enge Freunde gewesen, und Sir Jeremy und Lady Rawdon hatten ihn stets wie einen eigenen Sohn behandelt. Heiratete Richard die Tochter der Familie etwa aus Pflichtgefühl, weil sie inzwischen ganz allein in der Welt stand?
Vor mehreren Jahren hatte Lexi bereits ihre Mutter verloren, vor einigen Monaten fand ihr Bruder auf tragische Weise seinen Tod, und nun war auch ihr Vater verstorben.
Lady Honoria wandte ihre Aufmerksamkeit der Braut zu und musterte sie anerkennend. Alexandra Rawdon bewies Haltung. Groß, aufrecht und schlank stand sie in einem weißen Kleid neben Richard vor dem Altar, das kupferrote Haar von Schleier und Hut gebändigt. Dennoch hatten die vergangenen Monate ganz offensichtlich ihren Tribut gefordert, denn sie wirkte steif wie ein Stock und war viel zu dünn. Lady Honoria seufzte. Sie hatte vorgeschlagen, die Hochzeit zu verschieben, doch Richard hatte nicht mit sich
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