Historical Saison Band 20
reden.“
Plötzlich fiel ihr der Mann ein, den sie vorhin am Waldrand gesehen hatte. Ihn aber jetzt zu erwähnen, würde alles nur noch schlimmer machen. Es konnte sicher bis später warten.
Das Schweigen zog sich in die Länge. „Gibt es sonst noch etwas?“, fragte sie schließlich.
„Nein, nichts. Wenn du mich entschuldigen möchtest, ich habe noch einiges zu erledigen.“
Und damit ließ er sie allein. Claudia stieß betroffen die Luft aus. Ganz offensichtlich war er noch immer ziemlich böse auf sie. Die Tatsache, dass sein Ärger gerechtfertigt war, stimmte sie nicht fröhlicher. Er hielt sie sicher für eine leichtsinnige kleine Närrin, und es war ihr unangenehm, dass sie ihm bereits zum zweiten Mal Grund gegeben hatte, an ihr zu zweifeln. Sie hätte nicht sagen können, warum ihr seine Meinung überhaupt wichtig war, aber so war es nun einmal. Also beschloss sie, nicht wieder so unachtsam zu sein. In diesem Moment wurde ihr klar, dass er gar nichts zu ihrem unkonventionellen Reitkostüm gesagt hatte.
Claudia verbrachte eine Stunde über den Haushaltsbüchern oder vielmehr damit, auf Reihen um Reihen von Zahlen zu starren, ohne sie wirklich wahrzunehmen. So sehr sie sich auch bemühte, sie konnte nur an ihre Unterhaltung mit Anthony denken. Am Ende gab sie jeden weiteren Versuch auf, Einnahmen und Ausgaben zu analysieren, und schloss das Buch. Es war ein schöner Tag, und ein Spaziergang würde ihr dabei helfen, ihre Gedanken zu sammeln.
Die Stufen von der Terrasse führten zu einem Pfad, der durch einen Bogengang in der Eibenhecke verlief und schließlich in einen breiten, grasbewachsenen Weg mündete. An dessen Ende, ungefähr zweihundert Meter entfernt, befand sich eine Gruppe alter Bäume. Claudia lief darauf zu. In der Mitte, auf einer Lichtung, stand ein kleiner, runder Bau, der an einen antiken griechischen Tempel erinnerte. An den Seiten war er offen, und Säulen und Mauerwerk waren dunkel vom Regenwasser und moosbewachsen. Im Zentrum des Marmorbodens stand ein Sockel, den eine halb nackte Statue der Göttin Aphrodite schmückte. Sie war nur etwas über einen halben Meter hoch, aber von erlesener Kunstfertigkeit. Sehr oft zog es Claudia hierher. Sie wusste nicht, woher das Kunstwerk stammte oder wie lange es schon hier stand. Jedenfalls sah es sehr alt aus, also hatte es vielleicht derjenige hier aufstellen lassen, der das Haus gebaut hatte. Claudia wusste nicht einmal, wer das gewesen sein mochte. Der Familiengeschichte zufolge hatte der erste Earl of Ulverdale den Besitz zu Zeiten Charles II. von einem Rivalen am Spieltisch gewonnen – eine Geschichte, die sie noch nie so recht hatte glauben können. Was auch immer dahinterstecken mochte, sie kam gern hierher.
Der Tempel war schön anzusehen und die Ruhe und der Frieden, die hier herrschten, halfen ihr, nachzudenken. Langsam ging sie um den Sockel herum und betrachtete die Statue aus jedem Winkel. Es war, als hätte der Bildhauer einen sehr intimen Moment für die Ewigkeit festgehalten – vielleicht eine Dame, die sich zum Baden entkleidete. Und es war ihm gelungen, diese Bewegung in Stein zu meißeln. Die Schlichtheit seiner Kunst war wunderschön und fesselnd.
„Ich frage mich, an wen der Bildhauer dachte, als er sie erschuf.“
Die Stimme riss sie aus ihren Träumereien, das Herz schlug ihr vor Schreck bis zum Hals. Anthony stand auf der Schwelle. Sein Pferd war an einen Busch nur wenige Meter entfernt gebunden. Auf dem feuchten Gras hatte sie ihn nicht kommen hören. Um Fassung ringend drehte Claudia sich wieder zu der Statue um. Doch sie war sich nur allzu sehr der Schritte bewusst, die hinter ihr auf dem Marmorboden erklangen.
„Vielleicht gab es gar keine wirkliche Person, sondern nur ein idealisiertes Bild in seiner Vorstellung“, erwiderte sie.
Er blieb neben ihr stehen. „Vielleicht.“
„Glaubst du nicht?“
„Sie ist so wunderschön gestaltet, so viel lebensechter als die meisten klassischen Statuen. Es scheint mir eher, als sollte eine hinreißende junge Frau für die Ewigkeit in Stein festgehalten werden.“
Erstaunt sah Claudia zu ihm auf. Noch nie hatte sie ihn so reden hören, so nachdenklich, so besinnlich. „Weißt du etwas über ihre Geschichte?“
„Sehr wenig. Wie es heißt, hat mein Großvater sie auf seiner Grand Tour in Italien erstanden. Er behauptete immer, es sei ein Bernini.“ Er lächelte schief. „Wahrscheinlich war das nur Wunschdenken. Der alte Herr war für seine Lügengeschichten
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