Historical Saison Band 20
zu belassen. Ganz abgesehen davon würde sie seine Aufmerksamkeiten alles andere als begrüßen. Um sie nicht zu stören, wollte er sich gerade zurückziehen, da schien Claudia seine Anwesenheit zu spüren und blickte auf – überrascht und argwöhnisch zugleich.
„Anthony.“
„Entschuldige, meine Liebe. Ich wollte dich nicht erschrecken.“
Hastig streckte sie die angezogenen Beine aus und erhob sich. „Wolltest du etwas Bestimmtes?“
„Ich bin deswegen gekommen.“ Er wies auf die Zeitungen, die auf einem kleinen Tisch lagen.
„Oh, natürlich.“ Sie schenkte ihm ein sprödes Lächeln. „Nimm sie ruhig mit.“
Er kam näher und warf einen Blick auf das Porträt, das sie sich angesehen hatte, als er eintrat. Es zeigte einen jungen Mann in Uniform. Obwohl seine Gesichtszüge kantiger waren, wiesen die Augen und der Mund Ähnlichkeiten mit Claudias auf.
„Dein Bruder?“
„Ja. Es wurde gemalt, kurz bevor Henry nach Spanien abreiste.“
„Ihr seht euch ähnlich.“
Sie nickte.
„Ihr habt euch sehr nahe gestanden, nicht wahr?“
„Er war mein bester Freund.“ Die Worte entschlüpften ihr gegen ihren Willen, denn sie verrieten mehr, als sie beabsichtigt hatte. Schon spürte sie, wie Anthonys Interesse erwachte. Schnell heftete sie den Blick wieder auf das Porträt.
Anthony lächelte leicht. „Meine Geschwister sind alle schon als Kinder gestorben. Ich habe mir allerdings oft ausgemalt, wie angenehm es sein muss, Geschwister zu haben, mit denen man sich verbunden fühlt.“
„Ich weiß nicht, was ich ohne Henry getan hätte“, sagte sie. „Er war mein Fels in der Brandung.“
„Der frühe Tod deiner Mutter muss ein fürchterlicher Schock gewesen sein.“
„Das stimmt, aber der Aufruhr in unserer Familie begann schon lange vorher. Wie so viele in ihrer Generation waren meine Eltern eine Vernunftehe eingegangen. Leider waren sie nicht glücklich miteinander. Seit ich mich erinnern kann, haben sie nur miteinander gestritten. Und diese Auseinandersetzungen wurden mit der Zeit immer erbitterter.“ Sie seufzte. „Ihre Vorlieben und Interessen waren so gegensätzlich. Meine Mutter war sehr schön, aber auch ziemlich temperamentvoll, und mein Vater war ein herrischer, kalter und zurückhaltender Mann. Andererseits glaube ich, dass er auf seine Weise viel für meine Mutter empfand.“
„Und was war mit deinem Bruder und dir?“
„Henry war der Erbe. Meine Mutter vergötterte ihn. Dasselbe kann ich zwar nicht über meinen Vater sagen, aber gewiss war er sehr stolz auf Henry und tat alles, um dessen Erziehung und Karriere zu fördern.“ Sie lächelte kläglich. „Mich, das Mädchen, nahmen meine Eltern nicht besonders wahr. Nachdem meine Mutter gestorben war, stellte mein Vater eine Gouvernante ein und sah seine Pflicht mir gegenüber damit erfüllt. Henry war der einzige Mensch, der mir je das Gefühl gab, wichtig zu sein.“
„Ich verstehe.“ Und plötzlich verstand er wirklich. Viele Dinge ergaben jetzt einen Sinn.
Claudia sah zu ihm auf. „Das war nichts Ungewöhnliches. Söhne werden ihren Schwestern nun einmal vorgezogen.“
„Was das Benehmen deiner Eltern nicht entschuldigt.“
„Wenn ich allerdings an deinen Vater denke, nehme ich an, dass deine eigene Kindheit nicht so völlig anders gewesen sein kann.“
„Das stimmt“, gab er zu. „Jedenfalls soweit es ihn angeht. Meine Mutter war immer sehr liebevoll, wenn wir uns begegneten. Allerdings sah ich sie nur selten, und ich hatte keinen Henry, dem ich mich hätte anvertrauen können.“
„Ja, in der Hinsicht wenigstens hatte ich großes Glück. Ich konnte ihm immer alles erzählen, und er war niemals schockiert oder böse.“
„Der ideale Vertraute also.“
„Wir redeten über alles, was man sich nur vorstellen kann. Besonders interessierte er sich für Politik und die Entwicklung des Krieges. Er sagte, er wollte seinem Land dienen, nicht in einem trostlosen Büro umgeben von staubigen Akten herumsitzen.“
„Was hat dein Vater dazu gesagt? Sicher wollte er doch, dass sein Sohn seine Arbeit fortführte.“
„Ja, aber Henry weigerte sich. Sie stritten sich oft deswegen, bis mein Vater schließlich nachgab und einwilligte, ihm ein Offizierspatent zu kaufen.“
„Und was wurde aus dem Geschäft?“
„Einer meiner Cousins nahm Henrys Platz ein.“ Sie schüttelte den Kopf. „Manchmal versuche ich, mir auszumalen, wie die Dinge gekommen wären, wenn er geblieben wäre. Aber es fällt mir stets leichter, mir
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