Historical Weihnachtsband 1990
sie kaum denkt."
„So scheint es", murmelte Gates und machte ein nachdenkliches Gesicht. Bei seiner Grübelei entging ihm der neugierige Blick, den Annabella ihm zuwarf. „Aber", fuhr er immer noch im selben Tonfall fort, „sie sieht nicht schlecht aus. Und sie ist auch keine unangenehme Gesellschaft. Ich frage mich, was sie vom Heiraten abgehalten hat."
„Veranlagungen wahrscheinlich", stellte Annabclla schulterzuckend fest. „Meine Mutter sagt, manche Frauen sind dazu geboren, alte Jungfern zu werden. Sie meint, das muß so sein, weil es nicht genug Männer zum Heiraten gibt. Zum Glück habe ich mir darüber noch nie Sorgen zu machen brauchen", schloß sie mit einem Lächeln, das er allerdings nicht zu würdigen schien. Statt dessen dachte er anscheinend immer noch über ihre Bemerkung nach.
„Sie glauben, daß Miss Hillyer dazu geboren ist, nie zu heiraten?" fragte er schließlich.
„Das glaubt meine Mutter. Wie soll man es wissen?" antwortete Annabella und versuchte, ihren Ärger zu verbergen. Sie hatte nicht die Absicht, ihre Zeit mit dem Schicksal von Mary Hillyer zu verschwenden. „Was für ein düsteres Thema, um es an einem so schönen Tag zu besprechen. Ist der Morgen nicht herrlich, nachdem nun die Sonne scheint?"
„Herrlich", bestätigte Jack Gates. Tatsächlich ließ die Sonne die schneebedeckten Felder wie mit Diamanten bedeckt schimmern, und die Luft war klar und Annabella leichtfüßig. Das waren alle notwendigen Zutaten für einen perfekten Tag. Weshalb also hatte er dieses ruhelose Gefühl, diesen Wunsch, das Eis und sogar Annabella, so hübsch sie auch sein mochte, zu verlassen? Warum beschäftigte Mary Hillyer ihn so sehr?
Seit dem Gespräch am Morgen des vergangenen Tages hatte er sie kaum gesehen, doch an diesem Vormittag, als er mit Gray und Eveline zum Teich gehen wollte, war Mary in den Flur gekommen und hatte gefragt, ob sie zum Mittagessen zu Hause wären. Aus dem Raum hinter ihr war schwerer Tannenduft gekommen, woraus Gates geschlossen hatte, daß sie das Zimmer für Weihnachten schmückte. Bestimmt wand sie die Zweige zu langen Girlanden, die dann entlang der Wände drapiert wurden, wie seine Mutter es jedes Jahr um diese Zeit getan hatte.
Lebhaft sah er das Bild vor seinem geistigen Auge, wie am Tag zuvor auch noch.
Überrascht stellte er fest, daß er zweimal in zwei Tagen an seine Kindheit gedacht hatte. Das tat er sonst nie. Seine schlimmen Jugendjahre hatten das frühere Glück so überlagert, daß er Gedanken an die Vergangenheit immer beiseite geschoben hatte. Nicht nur die an Zeiten, die am besten vergessen waren, sondern auch jene an die noch früheren, frohen Tage.
Glück fand Jack in jüngeren Ereignissen: im Verfolgen seiner ehrgeizigen Pläne und in so flüchtigen Vergnügungen wie Gesellschaften und schönen Frauen. Als er jedoch auf dem Flur gestanden und Mary angesehen hatte, war zum erstenmal seit Jahren wieder wirkliche Freude über das Weihnachtsfest in ihm aufgestiegen. Bei der Erinnerung daran hatte er gelächelt, und Mary hatte sein Lächeln erwidert. Nun fielen ihm auch ihre Augen ein. Ihr Ausdruck war zutiefst sehnsüchtig gewesen, als sie den Schlittschuhläufern einen schönen Vormittag am Teich gewünscht hatte.
Hatte Mary sehnsüchtig geschaut, oder bildete er sich das nur ein? Laut Gray und Eveline konnte es nicht sein, denn die beiden waren überzeugt, daß Mary lieber zu Hause blieb. Und hatte Mary am Morgen des vorangegangenen Tages nicht genau dasselbe gesagt? Was aber vermittelte ihm den Eindruck, daß sie auf der Suche nach etwas war?
Annabella sprach und schreckte Gates aus seinen Gedanken auf. „Entschuldigen Sie", sagte er und machte eine entsprechende Geste. „Ich fürchte, die frische Luft ist mir zu Kopf gestiegen. Ich war nicht ganz bei der Sache. Was hatten Sie gesagt?"
„Nur, daß es heute nacht wieder schneien soll. Ich hoffe es, denn für morgen abend planen wir eine Schlittenfahrt. Natürlich werden Sie und Gray mitkommen. Ich würde Sie ja zu unserer Gruppe einladen, aber ich weiß, daß Gray seinen eigenen Schlitten nehmen will. Nun, nachdem wir die Erfrischungen zu uns genommen haben, ordnen sich die Gruppen vielleicht um. Haben Sie genug vom Schlittschuhlaufen?" fügte sie hinzu, da ihr Begleiter trotz seiner Entschuldigung immer noch geistesabwesend wirkte. „Falls ja, können wir die anderen zusammenrufen und etwas Warmes trinken gehen. Soviel ich weiß, will Hetty Pickering uns alle mit nach Hause nehmen.
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