Historical Weihnachtsband 1990
gestellt hat. Da hat ihr eines den Hut einfach vom Kopf gerissen. Ihr Gesicht hättet ihr sehen sollen. Es war zum Schreien."
Eveline und Gray brachen in Gelächter aus, während ihre Mutter gedankenverloren lächelte. Sie waren alle beim Frühstück. Eveline, Gray und ihre Mutter waren am einen Ende des Tisches zusammengerückt, Jack Gates und Mary saßen sich zufällig gegenüber.
Da Mary eine schlaflose Nacht hinter sich hatte, wollte sie zunächst nicht zum Frühstück erscheinen. Der gesunde Menschenverstand hatte ihr allerdings klargemacht, daß sie Jack früher oder später doch wieder begegnen mußte. Und je länger sie es aufschob, desto schwerer wurde es. Er hatte sie höflich begrüßt, und sie hatte den Gruß genauso höflich erwidert. Den vorangegangenen Abend hatte er nicht erwähnt, worüber sie froh gewesen war. Bisher hatte Mary ihre Gefühle im Zaum halten können. Allerdings war sie nicht sicher, wie lange ihr das noch gelingen würde, denn jedes Wort Evelines traf sie wie ein Keulenschlag.
Ein Feuer unten im Dell... Ja, sie konnte sich alles vorstellen — die Schlitten, die am Rand der Lichtung einen Kreis bildeten, die Decken, die über die umgestürzten Baumstämme gebreitet waren, die Glöckchen, die mit jeder Kopfbewegung eines Pferdes fröhlich läuteten, während die Feiernden zueinanderfanden, scherzten und sich unterhielten.
Mary konnte sich den vollen Geschmack der dampfenden Schokolade in den Bechern ausmalen und den Ausbruch an Heiterkeit, als Hetty ihren Hut verlor. Und im Geist hörte sie Jacks fröhliches Lachen, wie damals am ersten Morgen. Tränen brannten Mary in den Augen, doch sie unterdrückte sie. Weinen durfte sie nicht und deshalb auch nicht nachdenken. Sie mußte die Mary sein, die alles spielend verkraftete, denn genau das wurde von ihr erwartet.
„Na, Jack", hörte sie Gray fragen, „hast du Kopfschmerzen? Du wirkst so deprimiert.
Probier doch Mrs. Parkers Brötchen, die werden dich wieder aufrichten."
„Ich weiß nicht", entgegnete Gates und schaute auf Marys gesenkten Kopf. „Ich bin die ganze Zeit dabeigewesen und habe wenig Grund zum Lachen gefunden."
„Na, also ich . . ." Gray schüttelte den Kopf. „Nun komm schon, alter Knabe, du hast wie alle anderen vor Lachen gebrüllt, du und Annabella. Wir haben keine Marmelade mehr, Mutter, du mußt nach mehr läuten."
„Ich hole welche", erbot sich Mary. Sie war froh über die Gelegenheit, sich vom Tisch entfernen zu können. Rasch nahm sie das leere Schüsselchen und tastete sich blind vor Tränen, zur Küchentür.
Annabella Woodcross . . .
Irgendwie machte das alles noch schlimmer, denn Annabella war so hübsch und selbstsicher. An Annabellas Seite hatte Jack sie
— Mary — bestimmt nicht vermißt. Wahrscheinlich hatte er sie schon vergessen, bevor sie Wilsons Dell erreichten.
Gray lachte immer noch, als Mary verschwand. „Hetty Pickering. Und wer wird je den Anblick vergessen, als Asa ihr zu Hilfe eilte? Na, Jack, was ist denn jetzt los mit dir? Du siehst aus, als hätte dir jemand die Stiefel zusammengeknüpft."
„Ich könnte mir denken, daß Miss Hillyer vielleicht lieber nichts über gestern abend hören möchte", gab er zurück.
„Mary? Aber warum denn nicht?" erwiderte Gray verständnislos.
„Wahrscheinlich ist sie enttäuscht, weil sie zurückbleiben mußte", antwortete Jack Gates absichtlich leise, damit Mary ihn nicht hörte.
Dieser Gedanke schien Gray allerdings noch nicht gekommen zu sein.
„Ach, Mary doch nicht. Sie verkraftet alles mühelos. Obwohl ich mir nicht denken kann", fügte er nachdenklich hinzu und warf einen Blick zur Küchentür, „weshalb sie so lange braucht. Bis sie die Marmelade bringt, ist mein Toast kalt. Hat jemand gesagt, daß Sophia heute eintrifft?"
„Unsere ältere Schwester", erklärte Eveline dem Gast. „Sie lebt in New Haven."
„Und hat hundert Kinder, die alle auf einmal schreien", fügte Gray bissig hinzu und preßte die Hände mit gespieltem Entsetzen auf die Ohren. Dann nahm er sie wieder fort, und seine Miene hellte sich auf. „Ist da jemand an der Tür? Vielleicht ist es Sir Asa, der noch einmal geneckt werden will."
Ihr Besucher war jedoch nicht Asa Webb, sondern Maria Judd, deren Gatte das Northampton Dry Goods Emporium besaß, und deren Sohn Kohlen lieferte. Die Gerüchte, die den Weg in das Bekleidungshaus nicht fanden, schnappte der Kohlenhändler bei seinen täglichen Runden auf, um sie seiner Mutter wie Leckerbissen zu servieren.
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