Historical Weihnachtsband 1990
noch zu Mary.
„Sind Sie sicher, Miss Hillyer?"
„Ja, ganz sicher. Ich — ich wünsche Ihnen viel Vergnügen."
„Wir werden unser Bestes tun", versprach Gray, indem er mit der freien Hand Jack hinter sich herzog. Die Tür fiel hinter ihnen ins Schloß, und fort waren sie. Mary blieb auf dem Treppenabsatz zurück, und Betty stand unten im Flur mit Marys gutem Mantel und ihrem Pelzmuff in der Hand.
„Es ist so schade, Miss", bemerkte sie. „Vielleicht hätte ich Mr. Hillyer sagen sollen, daß Sie bereits fort wären."
„Nein, Sie haben richtig gehandelt. Ich bin diejenige, die es ihm früher hätte sagen sollen. Nun, jetzt darüber zu diskutieren, hat keinen Sinn. Sie können meine Sachen weghängen."
„Ja, Miss. Wie Sie wünschen."
Betty blickte Mary nach, die die Treppe hinauf verschwand, und dachte über die Ungerechtigkeit des Lebens nach. Die arme Miss Hillyer kam selten genug aus dem Haus. Man sollte meinen, daß sich der Großvater ihrer erbarmen würde. Und wie eine Prinzessin sah sie aus in ihrem goldenen Kleid. Erst an diesem Morgen hatte Mrs. Parker bemerkt, daß Miss Hillyer vielleicht doch noch heiraten würde. Doch bei ihrem Pech sah es kaum so aus. Draußen hörte man die klingenden Schellen, als der Schlitten losfuhr. Seufzend drehte Betty sich um und ging zur Garderobe.
★
Als Mary in ihrem unbeleuchteten Zimmer stand, konnte sie die Glöckchen immer noch hören. Dennoch ging sie nicht ans Fenster, um den Schlitten abfahren zu sehen. Die anderen fuhren davon, und sie blieb, wie immer, zurück. Das muß mit einem
gebrochenen Herzen gemeint sein, dachte sie verzweifelt, denn in ihrer Brust fühlte sie einen puslierenden Schmerz. Tränen stiegen ihr in die Augen und rollten über die Wangen. Mit dem Handrücken wischte Mary sie fort und schluckte die restlichen hinunter. Wenn sie anfing zu weinen, konnte sie nicht mehr aufhören. Und in wenigen Minuten würde Grandfather nach ihr rufen, und sie mußte zu ihm gehen.
Aber noch nicht gleich. Erst mußte sie ihr Kleid ausziehen, das Haar auskämmen, überhaupt jede Spur dessen, was hätte sein sollen, vernichten. Nichts konnte sie dann mehr daran erinnern, was sie versäumt hatte. Und doch hätte sie gern alles unverändert gelassen und die Zeit zurückgedreht bis zu dem Moment, als Jack Gates ihre Hand gehalten hatte, damit er sie nahm und festhielt und nie wieder losließ.
Mary ballte die Hände zu Fäusten. All die Dichter und Schriftsteller fielen ihr ein, die über die Liebe geschrieben hatten. Tennyson (* Lord Alfred Tennyson, 1809-92, einer der größten englischen Dichter) zum Beispiel, der glaubte, es sei besser, die Liebe gekannt und verloren zu haben, als überhaupt niemals geliebt zu haben. Ist das wirklich so? fragte sie sich. Doch Tennyson sprach von jemandem, der wiedergeliebt wurde, nicht von Liebe, die im Keim erstickt wurde, so daß der andere niemals davon erfuhr.
Liebte sie Jack Gates? Wie konnte sie, wenn sie ihn seit ein paar Tagen überhaupt erst kannte? Weshalb sollte ihr andererseits das Herz brechen, wenn sie es nicht tat? Ach, könnte ich doch zu dem angenehmen, alltäglichen Leben zurückkehren, das ich vor seinem Erscheinen geführt habe. Aber noch während sie so dachte, sehnte sie sich danach, wieder in seiner Nähe zu sein, ihn lächeln zu sehen, seine Stimme zu hören, seine Hand in ihrer zu spüren.
„O Jack", flüsterte sie in die Dunkelheit hinein. Doch die Worte verhallten, und wieder war nur ihr heißer Atem zu hören.
Grandfather wartete bestimmt ungeduldig, und ihr Kummer würde ihn nur noch mehr verstimmen.
Irgendwo in der Ferne klingelten derweil fröhlich die Schlittenschellen.
5. KAPITEL
„O Mann, das hättest du sehen sollen", erklärte Eveline und schaute zu Gray hinüber, dessen Augen vor Vergnügen blitzten. „Am Flüßchen in Wilsons Dell hatten sie ein Feuer gemacht. Du weißt schon, welche Stelle ich meine, die gleich oberhalb des Angelplatzes. Dort haben wir heiße Schokolade getrunken. Allerdings wurde sie in Zinnbechern serviert, die so heiß waren, daß man sie nicht halten konnte. Ich habe die Hälfte von meinem Kakao über Justins Stiefel geschüttet."
Eveline unterbrach sich und nahm dann den Faden wieder auf.
„Trotzdem, du kennst doch den pelzbesetzten Hut, auf den Hetty Pickering so stolz ist? Den sie gekauft hat, als sie mit ihrer Mutter in New York war. Nun, Hetty war so damit beschäftigt, Asa Webb schöne Augen zu machen, daß sie sich zu dicht an die Pferde
Weitere Kostenlose Bücher