Historical Weihnachtsband 1992
Gesellschaftsschicht gegenüber.
Melanie sah sich gezwungen, die Frau, die sie bisher als gesellschaftliches Vorbild betrachtet hatte, ganz neu einzuschätzen. Zum zweitenmal innerhalb von wenigen Minuten gelang es ihr, sich ungewohnt selbstsicher zu geben.
„Entschuldigen Sie", sagte sie in festem, ruhigem Ton. „Ich glaube, wir sind uns noch nicht begegnet." Sie begleitete diese Feststellung mit einem Blick, der zeigte, daß sie eigentlich keinen Grund sah, diesen Zustand zu ändern.
Peter war nicht dieser Meinung. Teils ärgerlich über das Verhalten seiner Mutter, teils amüsiert, übernahm er schnell die Vorstellung. Dann trat er einen Schritt zurück und wartete, was als nächstes geschehen würde.
Die beiden Frauen sahen sich mit einem wachsamen Ausdruck in den Augen an.
Mrs. Lowell war der Unterton in der Stimme ihres Sohnes, als er die Nevilles vorstellte, nicht entgangen. Er verfügte über eine gewisse Rücksichtslosigkeit, die er meistens hinter Liebenswürdigkeit verbarg. Sein eiserner Wille, seine strikte Weigerung, eine der jungen Damen zu heiraten, die sie ihm immer wieder vorstellte, verbitterten sie. Ihr verstorbener Ehemann hatte keine dieser Eigenschaften gehabt und ihres Wissens auch nicht dessen Vater.
Peter schien Wesenszüge der weiter zurückliegenden Generationen geerbt zu haben. Damals waren die Männer der Lowells Banditen gewesen, die mit allen Mitteln, notfalls auch ungesetzlichen, ein gewaltiges Vermögen zusammengerafft hatten. Diese rohe männliche Kraft sollte sich nicht ausgerechnet bei ihrem Sohn wiederholen. Dadurch wurde ihr eigenes Leben ausgesprochen unbequem.
Kühl lächelte Mrs. Lowell ihre unwillkommenen Gäste an. Sie zuckte kaum merklich zusammen, als Peter erklärte: „Mrs. Neville engagiert sich für die Emigranten in New York. Ich denke, Professor Rasmussen würden ihre Ideen sehr interessieren. Er ist doch heute abend hier, nicht wahr?"
Mrs. Lowell nickte widerstrebend. Professor Rasmussen war ihre neueste Eroberung. Sie und Mrs. Astor hatten miteinander gewetteifert, ihn in ihre Salons zu locken. Er war ein Gelehrter, halb russischer, halb französischer Abstammung, dessen Meinung über die westliche Zivilisation die Oberklasse reizte und schockierte.
Mit seinen unkonventionellen Ansichten war er zum Liebling der Gesellschaft geworden. Denn damit vertrieb er den Leuten die Langeweile, Leuten, die daran gewöhnt waren, bedient zu werden, ohne jemals selbst einen Finger rühren zu müssen. Anziehend war auch seine Unberechenbarkeit. Nie konnte man voraussagen, wofür und wogegen er als nächstes auf die Barrikaden gehen würde.
Falls es ihm einfallen sollte, sich mit Mrs. Neville anzufreunden, blieb Georgette Lowell keine Wahl, als die Frau zu tolerieren.
Melanie Neville, die vom Ruf des Gelehrten wußte, war ganz aufgeregt bei dem Gedanken, den Professor persönlich kennenzulernen. Diese Aussicht bewog sie dazu, ihre Gastgeberin zu begleiten, die, wenn auch widerwillig, angeboten hatte, sie vorzustellen.
Ted und Jed blieben ebenfalls nicht lange. Peter winkte aus der Menge einige junge Leute herbei, die sich sofort der Zwillinge annahmen. Ehe Cornelia recht begriff, was geschah, stand sie allein mit ihrem Gastgeber am Rande des zugefrorenen Teiches.
„Wollen wir es versuchen?" fragte er und deutete auf die schimmernde Eisfläche, die im Licht der Lampions wie polierter weißer Marmor wirkte.
„Haben Sie für mich keinen exzentrischen Gelehrten auf Lager oder eine Schar junger Leute, die ich unbedingt kennenlernen muß?" fragte Cornelia, um ihre plötzliche Nervosität zu überspielen.
Ihre Blicke trafen sich. „Nein, nur ich stehe Ihnen zur Verfügung", erwiderte er leise und hielt ihr die Hand hin.
Ohne daran zu denken, daß sie sich eigentlich vorgenommen hatte, ihm aus dem Weg zu gehen, ergriff Cornelia sie.
6. KAPITEL
Während Cornelia in Peters Armen über das Eis glitt, wurde sie von Gefühlen überwältigt, auf die sie in keiner Weise vorbereitet war. Sie überfluteten sie und nahmen sie ganz und gar gefangen. Das hing wahrscheinlich damit zusammen, daß ihre Körper sich berührten. Durch den Stoff ihres Kostüms hindurch spürte Cornelia seine Muskeln, die Wärme seiner Haut. Sie ahnte seine Kraft und Stärke und —
seine Sinnlichkeit. Ein Schauer lief Cornelia über den Rücken.
Der Rhythmus der Musik wurde schneller, und sie paßten sich dem Tempo an.
Irgendwie war alles, wie es sein sollte. Die Umgebung verschwamm ihr
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