Historical Weihnachtsband 1992
Profil. Er hatte das verrückte Gefühl, daß sein Leben völlig aus den Fugen geraten war. Er war dermaßen abgelenkt, daß er seine Umgebung kaum wahrnahm. Erst im letzten Augenblick wurde er darauf aufmerksam, daß die Grauschimmel die Straße verlassen hatten und einem anderen Ziel zustrebten.
„Um Himmels willen, ziehen Sie die Zügel an." Sein lauter Ruf riß Cornelia aus ihren Tagträumen.
Erschrocken zuckte sie zusammen und versuchte, die Pferde zu Stehen zu bringen.
Leider waren die Grauschimmel zu lebhaft und sie selbst zu unerfahren. Ehe sie sie anhalten konnte, trabten sie in den Park. Als Cornelia merkte, daß sie nicht imstande war, das Gespann zu stoppen, hätte sie die Zügel etwas lockern müssen. Auch in dieser Beziehung hatte ihre mangelnde Übung Folgen. Die Pferde galoppierten geradeaus, und sie versuchte, sie nach links zu lenken, woraufhin der Schlitten gefährlich ins Schleudern geriet.
Cornelia spürte, daß Peter seinen Arm fest um sie legte. Er griff nach den Zügeln, zog sie straff an, so daß der Schlitten zwischen zwei Bäumen zum Stehen kam. Schnee wirbelte hoch.
Trotz des allgemeinen Fortschrittes hatte die Stadt im Park noch keine Gaslaternen installiert. Nur der Mond beschien die Äste und Zweige der Bäume, auf die die weißen Flocken herniederrieselten.
Cornelia stockte der Atem. Die plötzliche Gefahr, in der sie geschwebt hatten und die so schnell gebannt worden war, bedeutete nichts im Vergleich zu dem schockierenden Bewußtsein, sich in Peters Armen wiederzufinden. Da die Grauschimmel jetzt ruhig dastanden, hatte er die Zügel losgelassen und Cornelia an sich gezogen. Die Wärme seines muskulösen Körpers strömte auf ihren über. Peter hielt sie zärtlich und beschützend, zugleich jedoch besitzergreifend umschlungen.
Cornelia spürte, daß er ihr beides geben konnte: Geborgenheit und sinnliches Entzücken ohnegleichen.
Jetzt schneite es in dichten Flocken. Im silbrigen Licht des Mondes funkelten sie wie Brillanten. Irgendwo aus der Ferne drangen die Geräusche der Stadt gedämpft zu ihnen. Hier inmitten der Winterlandschaft hatten Zeit und Ort jede Bedeutung verloren. Nichts war wichtig, nur sie beide.
Luciana Montrachet würde die Situation bestimmt beherrschen, dachte Cornelia.
Der Gedanke, plötzlich eine Szene aus ihren Büchern zu erleben, übte eine ernüchternde Wirkung auf sie aus. Sie lehnte sich in seinen Armen zurück und schaute ihm direkt ins Gesicht.
„Mr. Lowell, Sie setzten viel voraus", sagte sie heiser.
Um seine Mundwinkel zuckte es verräterisch. „Das war schon immer mein Fehler", gab er offen zu.
„Das klingt nicht so, als ob Sie es bedauerten." Cornelia war zufrieden, ja sogar überrascht, wie sachlich ihre Stimme klang. Dabei klopfte ihr Herz wie wild, und ihr Atem ging unregelmäßig.
„Da haben Sie recht", bestätigte er. Es gab allerdings einige Dinge, die er gern anders gehabt hätte. Vor allem hätte er sich gewünscht, Cornelia Neville kennenzulernen, ohne sie vorher so schlimm zu verletzen. Denn verständlicherweise lehnte sie ihn jetzt ab und konnte ihm nicht vertrauen.
„Tatsächlich?" fragte Cornelia leise.
Ihre Frage war eine Aufforderung zu reden. Doch ihr verlockender Blick, ihr roter Mund, die zarten Rundungen ihrer Wangen, die vollkommenen, muschelähnlichen Ohrläppchen, die unter ihren Locken hervorspähten, dies alles verwirrte ihn.
Was um alles in der Welt geschieht eigentlich mit mir, dachte Peter. Leidenschaft war ihm nicht fremd. Doch bei Cornelia erlebte er sehr viel mehr. Er sehnte sich nach ihr, wie er es nie für möglich gehalten hätte. Gleichzeitig war ihm die Vorstellung, er könnte ihr, wenn auch unabsichtlich, Schmerzen zufügen, unerträglich. In diesem Augenblick wurde ihm klar, daß er alles für sie tun, ja sogar sein eigenes Leben opfern würde, um sie vor Leid und Schaden zu bewahren.
Im Grunde hatte er nach den üblichen, gesellschaftlichen Regeln schon Schaden genug angerichtet. Peter hatte diese Gelegenheit gesucht. Er hatte geradezu eine Verschwörung angezettelt, um sich ein bißchen Zeit allein mit Cornelia zu sichern, die ihm ständig ausgewichen war. Damit hatte er eine bestimmte Absicht verbunden, nämlich sich mit ihr auszusprechen und sie zu bitten, sich wieder mit ihm zu treffen, damit er ihr auf schickliche Weise den Hof machen konnte. Eine Begegnung wie diese, allein in einem verschneiten Park, war mehr, als er erwartet hatte. Diese Gelegenheit konnte er sich einfach nicht
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