Historical Weihnachtsband 1992
Magen füllen und das allein zählte. Schnell lehnte Lord Lindsay den Sack gegen den Türrahmen und schlich verstohlen zu seinem Pferd zurück. Bemüht, möglichst schnell das Weite zu suchen, überhörte er beim Aufsitzen, daß die Tür geöffnet wurde.
Er sah auch nicht, daß der Bauer herausschaute, um nachzusehen, ob Miss Duncan umgekehrt und zurückgekommen sei. Ian Ferguson spähte dem Reiter nach, der in der Dunkelheit verschwand, und bückte sich erst dann, um das Weihnachtsgeschenk aufzuheben. Seinen guten Ohren entging nicht das leise Klirren der Flaschen, und ein breites Grinsen zuckte über sein wettergegerbtes Gesicht. „So also steht es um den Weihnachtsspuk!" murmelte er sich in den Bart und schleppte den schweren Sack ins Haus. „Eigentlich erstaunt es mich nicht sehr! Seine Lordschaft ist immerhin trotz allem auch Lady Mary Connerys Sohn. Ich habe schon früher gewußt, daß er ein lieber, guter Junge ist."
★
Am Heiligen Abend begrüßte Blair Duncan die Nachbarn und betrat die kleine, am Rande des Dorfes gelegene Kirche. Die glücklichen Mienen der Leute erfreuten sie.
Die frohen Gesichter legten beredtes Zeugnis davon ab, daß der Unbekannte wieder einmal in Glenmuir gewesen war. Mit einem feinen Lächeln nahm Blair ihren Platz ein und genoß das köstliche Gefühl, vielleicht die Wahrheit über den geheimnisvollen Wohltäter zu kennen. Wahrscheinlich würde niemals auch nur einer der Dorfbewohner erfahren, wer er in Wirklichkeit war. Eigentlich sollten sie ihm ja dankbar sein. Das Versteckspiel bewies immerhin, daß er Glenmuir und die armen Schotten der Umgebung mochte, auch wenn er Blair nicht sonderlich liebte.
Wenn sie daran dachte, wie großzügig er sich in dieser Rolle erwies, so machte das seine Erklärung über die Aufteilung des Connerybesitzes sogar glaubhafter. Es tilgte außerdem manchen Zweifel, den sie an ihrem Jugendfreund hatte. Welches Leben er in London auch führen mochte, in Glenmuir jedenfalls konnte man ihm nichts vorwerfen.
Freilich mußten weitere Beweise für sein heimliches Doppelspiel erst einmal warten.
Abgesehen vom Kirchgang versprach der Abend für Blair nicht sehr viel Ruhe. Noch warteten Pflichten darauf, erfüllt zu werden. So konnte sie nicht im Hause sein, um wie sonst mit Mrs. Brown auf das Kommen der MacNabs zu warten. Nach alter Hochland-Tradition würden Mrs. MacNabs zahlreiche Sprößlinge lachend die ältliche Haushälterin als ihre Weihnachtsfee zu sich nach Haus entführen, ihr den Ehrenplatz am Feuer geben und sich darauf freuen, daß sie die Familienrunde mit Geschichten aus längst vergangenen Tagen unterhielt. Es war eine fröhliche Sitte, doch Blair hatte Pläne für den Abend, die sie zwangen, auf das Vergnügen zu verzichten.
Sie strich sich über die unter dem Hut hervorquellenden rötlichbraunen Locken und bedauerte beinahe, Lord Haverbrooks Einladung zu einem Glas Weihnachtspunsch nach dem Gottesdienst angenommen zu haben. Aber sie hätte nicht gut ablehnen können. Der Earl of Haverbrook hatte ihr offen gesagt, daß die Fairfaxes am Tage nach Weihnachten nach London reisen würden. Da sie bereit schienen, einen Einheimischen als Aufseher des Jagdrevieres einzustellen, wollten sie von Miss Duncan die Zusicherung, daß man sich auf den Mann verlassen könne. Die Gelegenheit, eine solche Anstellung für den alten Mr. MacNab zu sichern, war Grund genug, bei Lord Haverbrook zu erscheinen. Außerdem würde der Besuch Blair von den Gedanken an Lord Lindsay ablenken und von der damit verbundenen Verwirrung.
Jähe Unruhe in der Kirche riß Blair aus den Überlegungen. Sie hob den Kopf, weil sie glaubte, Pater MacKenzie wäre aus der Sakristei getreten. Aber es war Cameron, Earl of Lindsay, der sich in die Bank drängte, auf der Blair saß. Das konnte ja eine schöne Stunde der Einkehr und Erbauung werden, dachte sie verzagt. In seiner Nähe mußte sie gegen Empfindungen ankämpfen, die an diesem Ort geradezu gotteslästerlich waren. Doch Camerons Gegenwart und sein herzliches Lächeln waren schließlich nicht so quälend, wie sie befürchtet hatte. Ganz im Gegenteil!
Seine Nähe erschien ihr wie selbstverständlich und vermittelte ihr sogar ein Gefühl des Friedens.
Nach dem Ende des Gottesdienstes standen die Dorfleute umher und schauten zu, wie der Earl Miss Duncan aus der Kirche geleitete. Er hatte es auf sich genommen, sich dem allgemeinen Unwillen auszusetzen, um wenigstens einige Zeit an Blairs Seite verbringen zu können. Um so
Weitere Kostenlose Bücher