Historical Weihnachtsband 1992
die Augen und hörte das Lachen des Vaters, sah das herzliche Lächeln der Mutter und roch die köstlichen Düfte von Speisen und Süßigkeiten, die damals zu Weihnachten gehörten. Sich der vertrauten Bilder innig zu erfreuen, war für sie das einzige Geschenk, das sie sich leisten konnte, und bedeutete ihr mehr als neue Kleider oder kostspielige Juwelen.
Bekümmert stellte sie fest, daß es diesmal anders sein würde. Die freundlichen Gedanken an die Vergangenheit stellten sich nicht wie früher ein. Die Gegenwart verdrängte jede Rückbesinnung. Die Erinnerung an Cameron beschäftigte sie immer dann, wenn sie am wenigsten darauf gefaßt war, und machte es ihr unmöglich, sich mit der Vergangenheit zu befassen. Seine Anwesenheit verursachte zu viele die Gegenwart betreffende Fragen und Verheißungen für die Zukunft. Wenn sie an die Küsse dachte, die sie erst vor kurzem mit ihm getauscht hatte, und an den Vorfall in seinem Schlafzimmer, waren die Grübeleien nicht einmal sehr unangenehm.
Cameron, Earl of Lindsay, sah unwiderstehlich gut aus und war sehr charmant.
Angezogen hatte er bereits etwas Bestechendes, halbnackt freilich war er überaus verführerisch.
Bei dem bloßen Gedanken, welche Wirkung er noch immer auf sie ausübte, schlug ihr Herz schneller. Dabei hatte der Cameron von heute nichts gemein mit ihrer Jugendliebe. Er hatte nichts Kindliches oder Unschuldiges an sich; er war ein erwachsener Mann und unbeschreiblich sinnlich. Die Erinnerung an das, was beinahe geschehen wäre, bewirkte, daß Blair unter dem Plaid plötzlich heiß wurde.
Nur die Befürchtung, es könne eine andere Frau in Camerons Leben geben, hatte Blair zur Flucht veranlaßt, wenn man es überhaupt so nennen konnte. Der wachsende Argwohn, Lord Lindsay könnte der unbekannte Wohltäter sein, drohte das harte Urteil über den Mann ins Wanken zu bringen, der die Zerstückelung des Connerybesitzes geduldet und dem Herrenhaus den Namen Lindsay Hall gegeben hatte. Sie mußte zugeben, daß er ein hinreißender Mann war, selbst wenn er sich außerhalb des Gesetzes bewegte. Schließlich hatte er ja auch ihr das Herz gestohlen!
Diese Erkenntnis behagte ihr nicht recht. Er kümmerte sich zwar um das Wohlergehen ihrer Freunde, aber was war das für ein Mensch, der die eigenen Landsleute ausplünderte? Und wie konnte er so tun, als bedeutete Blair ihm viel, wenn er vermutlich eine Geliebte hatte? Vielleicht war die Kleiderrechnung, die Blair auf dem Schreibtisch gefunden hatte mit der Existenz eines Mündels oder einer verarmten Verwandten zu erklären, doch das hielt Blair für nicht wahrscheinlich.
Cameron hatte heißes Blut und ein leidenschaftliches Temperament. Das hatten seine Küsse ihr deutlich bewiesen.
Nein, sie konnte seinem Drängen und den eigenen Wünschen nicht nachgeben, solange sie nicht ganz sicher war, daß er es aufrichtig mit ihr meinte. Nur wenn sie die volle Wahrheit kannte, würde sie sich ihm freiwillig schenken. Und daß sie seine wahren Gefühle noch vor Weihnachten in Erfahrung brachte, war sehr unwahrscheinlich. Es war anzunehmen, daß ihr diesmal wohl kein weihnachtlicher Friede beschieden sein würde. Dafür hatte Cameron gesorgt. Bei diesen Überlegungen war es um ihre Festtagsstimmung geschehen. Den Kopf an die abgewetzten Lederpolster gelehnt, überließ sie sich nachdenklich düsteren Vermutungen.
★
Cameron, Earl of Lindsay, hüllte sich enger in den Mantel, der ihn kaum wärmte, und nahm sich vor, bald ein dickes Schottenplaid zu kaufen. Er sah Miss Duncans Kutsche abfahren und war froh, daß er Blair nicht auf Fergusons Türschwelle begegnet war, während sie beide ihre Weihnachtsgaben ablieferten. Beinahe wäre es zu dieser Begegnung gekommen,
hätte er sie nicht im allerletzten Moment vermieden. Es war nicht ratsam, Blair hinter sein Geheimnis kommen zu lassen. Wahrscheinlich hätte ihm das zwar einen Vorteil bei ihr verschafft, doch dickköpfig wollte er, daß sie ihn um seiner selbst willen liebte und nicht, weil er Nächstenliebe übte.
Endlich verschwand der altmodische Wagen um die Straßenecke. Frierend hob der Earl einen prallgefüllten Sack vom Rücken des Grauschimmels, schleppte die schwere Last vor Ian Fergusons Haus und stellte sie vorsichtig ab, um die Flaschen mit Whisky nicht zu zerbrechen, die sich neben einem Beutel Geld und einem großen Schinken darin befanden. Wahrscheinlich machte Ferguson sich wenig aus feinem Räucherschinken, aber er würde ihm über die Feiertage den
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