Historical Weihnachtsband 1992
ihn morgen zu Tisch zu bitten, ohne dabei über den eigenen Schatten springen zu müssen. Nun, sie sollte ihren Willen haben. Er würde auf das Spielchen eingehen und den Verlassenen mimen, der sich nach einer Familie und einem gemütlichen Heim sehnte. Dann konnte sich Blair die Ausrede machen, daß sie ihn aus reiner Nächstenliebe einladen mußte. „Nein, Madam, ich habe niemanden, der mir ein warmes Plätzchen bei der Weihnachtsfeier bereithält", antwortete er und schaute sie erwartungsvoll an. Nun würde sie nun ganz gewiß die gewünschte Einladung aussprechen.
„Tatsächlich?" sagte sie unvermutet schroff. Das Lächeln schwand aus ihrem Gesicht bei der Vorstellung, daß es Frauen gab, deren Kleider er bezahlte.
„Ja, so ist es leider." Seine freudige Erregung wich der Verwunderung über Blairs veränderte Stimmung.
„Das ist wirklich jammerschade", sagte Miss Duncan in gepreßtem Ton, wandte sich brüsk ab und stieg in ihre Kutsche.
Verblüfft und höchst enttäuscht blieb Cameron zurück, neugierig angestarrt von den Bewohnern von Glenmuir.
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Der Earl of Haverbrook hatte erwähnt, daß sich nur eine kleine Gesellschaft am Heiligen Abend zusammenfinden würde. Dennoch erstrahlte das prächtige Gebäude wie gewöhnlich im hellsten Licht. Lord Haverbrook hatte versprochen, Miss Duncan später nach Hause fahren zu lassen, und deshalb schickte sie Robbie zum Familienfest der MacNabs. Von dort sollte er mit Mrs. Brown zurückkehren.
Der Butler begrüßte Miss Duncan mit der ihm eigenen Würde und half ihr aus dem Plaid. Ihr fiel auf, daß in dem Jagdschloß für eine kleine Soirée viel zu hektische Betriebsamkeit herrschte. Im Salon unterhielten sich die Gäste ziemlich laut und lachten aus vollem Halse. Wahrscheinlich hatten die meisten schon einige Glas Punsch getrunken.
Blair blieb auf der Schwelle stehen und wartete darauf, daß sie der Butler ihr Eintreffen meldete. „Ja, ich habe Cameron den Rat gegeben", hörte sie Lord Haverbrook zu einem Genleman sagen, „sich dieses schillernde Persönchen einzufangen. Mir scheint, meine Worte haben den Zweck nicht verfehlt. Die junge Dame ist bereits so gut wie sein. Ich kann es verstehen, daß er es kaum erwarten kann, sie uns zu präsentieren. Was ist denn, Thompson?"
„Miss Duncan ist gekommen, Mylord", antwortete der Butler.
Blair tobte innerlich vor Zorn. Es stimmte also! Lord Haverbrooks Äußerung war Beweis genug. Cameron hatte in London eine Geliebte, und alle wußten es, nur Blair nicht! Wie konnte er es wagen, sie so zu täuschen und ihr von Liebe zu sprechen?
Meinte er, sie sei gut gepug, ihm während der kurzen Besuche in Glenmuir die Zeit zu vertreiben? Eigentlich hätte sie nicht überrascht sein dürfen. Schon in frühester Jugend war ihm diese arrogante Einstellung zu eigen gewesen! Mochte er noch so viel für die Leute in den Highlands tun, Blair war es gleich. Sie würde auch in Zukunft allein schlafen. Ihre Ehre war kein Ausgleich für seine Nächstenliebe!
„Ah, wir haben Sie erwartet, Madam", sagte Lord Haverbrook, zwinkerte seinem Gesprächspartner mit Verschwörermiene zu und geleitete Miss Duncan zu den anderen Anwesenden. „Wir hatten keine Ahnung, wann der Gottesdienst zu Ende ist. Deshalb konnte ich Sie nicht mehr davon in Kenntnis setzen, daß ich meine Pläne für heute abend geändert habe."
„Geändert?" wiederholte Blair erstaunt. Es fiel ihr schwer, den Zorn auf Lord Lindsay zu unterdrücken.
„Ja, ich bedauere, aber es hat sich etwas ergeben, das es Fairfax, Enright und mir unmöglich macht zu bleiben. Aber wir haben Zeit, auf Weihnachten mit einem Gläschen anzustoßen, ehe wir uns verabschieden müssen. Miss Duncan, gestatten Sie mir, Ihnen ein fröhliches Fest zu wünschen!"
„Was ist denn geschehen, Sir, das Ihnen den Heiligen Abend so verdirbt?" fragte Miss Duncan und ließ sich ein Glas Champagner geben. „Ich hoffe, es ist nichts Schlimmes."
„Nein, Madam. Im Gegenteil, es ist gut, daß die Angelegenheit endlich ins reine kommt. Entschuldigen Sie mich jetzt bitte. Wir Männer müssen nun tun, was die Pflicht uns gebietet."
Unversehens sah Blair sich der langweiligen Gesellschaft der Comtess of Haverbrook und der Gattinnen von Lord Fairfax und Mr. Enright überlassen. Die Gentlemen standen in der entfernten Ecke des Salons und unterhielten sich in gedämpftem Ton. Blair gab vor, sich den Weihnachtsbaum ansehen zu wollen, und näherte sich neugierig den Herren. So konnte sie Bruchstücke der
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