Historical Weihnachtsband 2010
Zeit gekommen war.
Vielleicht auch nicht.
Er nahm noch einige Bissen und einige Schluck Bier, bevor er wieder zu sprechen begann. Elizabeth saß wie zu Stein erstarrt noch genau da, wo er sie zurückgelassen hatte. Nur ihre Augen bewegten sich und folgten jeder seiner Bewegungen. Sie war anders als alle Huren, denen er je begegnet war.
„Hast du Angst vor mir, Mädchen?“
Ihre Miene zeigte ihm deutlich ihre Gefühle – das heftige Stirnrunzeln, die zusammengepressten Lippen, die er so gerne geküsst hätte. Selbst ihr Atmen hatte sich noch nicht beruhigt. Er sah, wie sie kämpfte, ihm auf seine Frage und die Herausforderung, die in ihr lag, zu antworten.
„Ich weiß, dass viele Sassenachs“, er benutzte das verächtliche Wort, mit dem die Schotten die Engländer bezeichneten, „uns fürchten. Wir schottischen Krieger sind für unsere Wildheit bekannt und …“
Ihr Lachen unterbrach ihn. Er war überrascht. Das war eine unerwartete Wendung.
„Wenn du über meine Worte lachen kannst, musst du wohl die wahre Natur der Schotten kennen.“
Immer noch lag ihr Lachen in der Luft. Gerne hätte er es von ihren Lippen getrunken. Ihr Gesicht veränderte sich, wenn sie lachte. Alle Anspannung verschwand dann daraus. Ein Lächeln ließ sie um Jahre jünger aussehen. Wie alt sie wohl war?
„Meine Großmutter erzählte mir vom wahren Charakter der Schotten, Mylord. Sie wollen ihren uisge beatha stark, ihre nächtlichen Trinkgelage lang, und möchten, dass ihre Frauen über diese Trinkereien hinwegsehen.“ Wieder lächelte Elizabeth. Ihr in die Ferne gerichteter Blick verriet ihm, dass sie sich an etwas erinnerte – an jemanden aus ihrer Vergangenheit. „Tausche das Getränk gegen ein anderes aus, und es beschreibt die meisten Männer, egal welcher Herkunft.“
Etwas in ihm fühlte sich durch ihre Worte beleidigt. Doch dann erkannte er, dass das Schicksal ihr wohl nur diese eine Seite der Männer gezeigt hatte. Er brach in Lachen aus, ohne es noch unterdrücken zu wollen. Wenn sie nicht versuchte, so unscheinbar zu wirken, hatte sie wirklich Feuer. Gavin betrachtete sie erneut, und jetzt sah er die Wahrheit – sie war eine schöne Frau, die sich in einem Arbeitskittel und unter einem Kopftuch versteckte.
„Ist das alles, was du über die Männer weißt?“
Elizabeth setzte sich aufrechter hin und ordnete ihr Gewand so, dass sie mit gekreuzten Beinen sitzen konnte. Gavin sah, wie sie um eine Antwort rang.
„Ich weiß viel über die Männer, Mylord. Über das, was sie tun und was sie sich wünschen.“ Beim letzten Wort funkelten ihre Augen. Aber es war nicht Begehrlichkeit, die darin aufleuchtete, sondern Abscheu.
„Und was ist mit den Wünschen der Frauen? Was weißt du darüber?“
Sie hob das Kinn, und ihre ausdrucksvollen Augen drückten Bedauern und Verlorenheit aus. Ob sie wohl wusste, wie viel sie mit einem einzigen Blick von sich preisgab? „Frauen haben keine Wünsche, Mylord. Zumindest keine größeren, als einen sicheren Ort zu haben, an dem sie leben können.“
Ihre Worte machten Gavin traurig. Sie trafen ihn zutiefst. Seiner Erfahrung nach lebten Frauen ihr Leben voll aus. Er wusste, dass seine verstorbene Frau ihm in ihrem Appetit auf das Leben und die Liebe in nichts nachgestanden hatte. Wie leer musste Elizabeths Leben bisher gewesen sein, wenn sie so etwas glaubte? Und wenn sie es vorzog, als Hure eher die Wünsche der Männer zu befriedigen als ihre eigenen? Er beobachtete, wie sie wieder ihre Beherrschung zurückgewann, und wusste, dass eine weitere unverblümte Frage abgewiesen werden würde. Was hatte sie ihm erzählt? Ihre Großmutter hatte die Schotten gekannt?
„War deine Großmutter denn Schottin?“
„Aye, Mylord. Aber sie kam von den Borders, nicht aus den Highlands wie Ihr.“
„Lebtest du bei ihr? Oder sie bei dir?“, bohrte er nach. Vermutlich war ein Gespräch über ihre Verwandte ein unverfängliches Thema. Er beschloss, seine Aufmerksamkeit wieder seiner Mahlzeit zu widmen und so zu tun, als führten sie nur eine belanglose Plauderei.
„Ich war noch ein Mädchen, als sie starb, Mylord“, entgegnete Elizabeth. Ein weiches Lächeln huschte über ihr Gesicht. „Ich erinnere mich an viele ihrer Redensarten.“
„Betrafen sie alle die Männer?“ Er nahm ein Stück Brot und biss kräftig davon ab.
„Nein, sie wusste über viele Dinge Bescheid. Sie war sehr weise. Am besten erinnere ich mich an ihre Lieder.“
„Komm, Mädchen. Iss mit mir.“ Wieder
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