Hitlers Berlin
Kütemeyer – nach einer Schlägerei mit Bauarbeitern – tot aus dem Landwehrkanal geborgen. Im Tagebuch und im Angriff klagte Goebbels beredt; Julek Karl von Engelbrechten, der offizielle Chronist der Berliner SA, stilisierte Kütemeyer zum Opfer »einer Rotte von Kommunisten«: Die »roten Bestien« hätten den SA-Führer in den Landwehrkanal gestoßen und ertränkt. Allerdings gab es laut Obduktionsbefund keinen Zusammenhang zwischen der Schlägerei und dem Tod durch Ertrinken. Ein halbes Jahr später ergingen lediglich Urteile wegen gefährlicher Körperverletzung, was Goebbels nicht hinderte, Kütemeyers Tod zum ersten prominenten »Mordfall« im »Kampf um Berlin« zu stilisieren. 27
Die aufgeheizte Stimmung führte dazu, dass im Dezember 1928 ein Demonstrationsverbot über Berlin verhängt wurde, an das sich Goebbels wegen Hitlers Kurs’ scheinbarer Legalität halten musste. Da jedoch die KPD das Verbot mit der Taktik der »Blitzdemonstration« unterlief, mit überraschend begonnenen und rasch wieder beendeten Protestmärschen, und so auf der Straße präsent blieb, wuchs der Druck auf den Berliner Gauleiter aus den eigenen Reihen: »Er [Horst Wessel] bedauert den Mangel an Aktivismus in der SA. Ich sitze in der Zwickmühle. Werden wir in Berlin aktivistisch, dann schlagen unsere Leute alles kurz und klein. Und dann wird Isidor [gemeint: Bernhard Weiß] uns lächelnd verbieten. Wir müssen vorerst Macht sammeln«, schrieb Goebbels am 16. Januar 1929 ins Tagebuch. Es blieb der SA »strengstens verboten, ›Widerstand gegen die Staatsgewalt‹ zu leisten«, wie ein Polizeibericht zusammenfasste. Bei den Braunhemden aber stieg der Druck weiter an. Als das Demonstrationsverbot Anfang Juni aufgehoben wurde, folgten prompt neue Protestmärsche und Saalschlachten. Mit einer Beteiligung am Volksbegehren der Rechtsparteien gegen den Young-Plan, der eine schrittweise Abzahlung der gegenüber früheren Regelungen (Londoner Konferenz 1921, Dawes-Plan 1924) stark reduzierten deutschen Reparationsleistungen vorsah, versuchte Hitler, seine Bewegung für breite Schichten wählbar zu machen – ein Versuch, der Ende des Jahres 1929 misslang. Jedoch sorgten die zwei Hitler-Auftritte in Berlin in diesem Jahr für einiges Aufsehen; die Aufmärsche in der Hauptstadt befriedigten und beruhigten die hier inzwischen auf deutlich mehr als 1000 Mann angewachsenen SA-Stürme. Am 20. Oktober war Goebbels angesichts der aufgeheizten Stimmung in der Stadt sogar dankbar für ein erneutes Demonstrationsverbot: »Gottlob, dass das Verbot unseres Aufmarsches kam. Er hätte doch zu schweren Zusammenstößen und damit zu einem Parteiverbot geführt. So haben wir das vermieden, werden Märtyrer und büßen kein Prestige ein.«
Bei der Kommunalwahl in Berlin am 17. November 1929 konnte die NSDAP einen nennenswerten Zuwachs verzeichnen. Dank 13 Mandaten in der Stadtverordnetenversammlung und insgesamt 40 in den Bezirken kühlten die Forderungen aufmüpfiger Parteifunktionäre erst einmal ab. Goebbels freute sich: »Ein überwältigender Aufstieg im ganzen Land und vor allem in Berlin. Das habe ich in meinen kühnsten Träumen nicht erwartet.« Einen Tag später vermerkte er: »Das ganze Reich [gemeint: die ganze NSDAP] schaut mit Bewunderung nach Berlin.« Scheinbar war jetzt Goebbels’ Stellung in der Hauptstadt gesichert. Er fuhr mit seiner Taktik fort, inszenierte Straßen- und Saalschlachten, feierliche Begräbnisse und sonstige Provokationen zur Selbstdarstellung einzusetzen. Sogar den Trauermarsch für den 19-jährigen Werner Wessel, der sich bei einer Skiwandertour im Riesengebirge verirrt hatte und erfroren war, nutzte der Gauleiter für eine politische Demonstration: Mit Fackeln zogen am 29. Dezember 1929 etwa 500 SA-Männer an der Parteizentrale der KPD am Bülowplatz in Mitte (heute Rosa-Luxemburg-Platz) vorbei. Werner Wessels drei Jahre älterer Bruder Horst, der Anführer des SA-Sturms 5 in Friedrichshain, hatte kurz zuvor die Trauerrede auf einen ermordeten Hitler-Anhänger gehalten und entwickelte sich zum Star der Berliner SA. Der 1907 geborene Sohn eines Pfarrers organisierte am Schlesischen Bahnhof (heute Ostbahnhof) in einem rein kommunistischen Umfeld NS-Aktivitäten. Sein SA-Sturm 5 führte bei Aufmärschen stets eine Schalmeien-Kapelle mit – eine neue Stufe der Provokation, denn diese Art der Musikbegleitung galt bis dahin als KPD-spezifisch. Wessels Liedtext »Die Fahne hoch«, auf die Melodie eines Gassenhauers
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