Hitlers Berlin
Grünspan laut und leise diskutiert. Nirgends merke ich antisemitische Entrüstung, wohl aber eine drückende Beklommenheit, wie vor dem Ausbruch eines Gewitters.«
Als der verwundete Diplomat später am Tag starb, gab Goebbels in München das Startsignal für eine Explosion der Gewalt. Telefonisch leiteten NS-Funktionäre die Anweisung an ihre Vertreter vor Ort weiter, während Polizei und Feuerwehr den Befehl bekamen, lediglich das Eigentum von »Ariern« zu schützen. 19
Das Ergebnis war nicht eine spontane Entladung des »Volkszorns«, wie der Propagandaminister behauptete, sondern ein bewusst losgetretener, sich dann selbst immer mehr anheizender Brand – und zwar im wörtlichen Sinne. Wie in allen anderen deutschen Städten gingen in Berlin die Synagogen in Flammen auf. Zehn der dreißig größeren jüdischen Gotteshäuser wurden vollkommen zerstört, darunter der Prachtbau in der Fasanenstraße (Wilmersdorf), fünf schwer und acht erheblich beschädigt. Unversehrt blieben vor allem Hinterhofsynagogen, die ihre Wurzeln oft auf die Zeit vor der gesetzlichen Judenemanzipation 1871 zurückführten. Außerdem wurden viele der etwa 85 privaten Beträume verwüstet. Die Horden von SA, Hitler-Jugend und nicht-uniformierten Antisemiten beschränkten sich nicht auf Synagogen. Allein in Berlin wurden mehr als tausend Geschäfte demoliert, die Schaufenster eingeworfen und oft Auslagen geplündert. In hunderten Wohnungen geschah dasselbe. Der Rassenhass hatte für die Täter doppelte Funktion: Ausleben von Ressentiments, aber auch Bereicherung. Der Völkische Beobachter berichtete ebenso stolz wie verfälschend: »Im ganzen Berliner Westen, wie auch überall sonst, wo die Juden sich noch in der Reichshauptstadt breitmachten, ist kein Schaufenster heilgeblieben. Zorn und Wut der Berliner, die trotz allem die größte Disziplin bewahrten, hielten sich doch in bestimmten Grenzen, so dass Ausschreitungen vermieden und keinem einzigen Juden auch nur ein Haar gekrümmt wurde. Die in den zum Teil allzu prächtig ausgestatteten Fenstern feilgebotenen Waren blieben unberührt, höchstens dass hier und da der eine oder andere Gegenstand durch einen Steinwurf oder eine herabfallende Scherbe beschädigt wurde.«
Die Wirklichkeit sah anders aus. Mehrere Dutzend jüdische Berliner kamen bei den Ausschreitungen zu Tode – manche wurden tot geprügelt, andere starben an Herzinfarkten. Mehr als 12 000 Juden wurden in der Reichshauptstadt verhaftet und in KZs gebracht. Soviel brutale Willkür wie im November 1938 hatte es zuvor nur zwischen Februar und Juni 1933 gegeben. Einmal mehr erwies sich, dass solche Ausschreitungen zwar nur von einer Minderheit begangen, aber von der ganz überwiegenden Mehrheit geduldet wurden – wenn auch häufig mit großer Scham. Die Exil-SPD bilanzierte noch im November: »Der Protest der Berliner Bevölkerung gegen die Beraubungen und Brandstiftungen, gegen die Missetaten an jüdischen Männern, Frauen und Kindern jeden Alters war deutlich. Er reichte vom verächtlichen Blick und der angewiderten Gebärde bis zum offenen Wort des Ekels und drastischer Beschimpfung.« Doch nur ausnahmsweise wagten Menschen, tatsächlich gegen die Gewalt einzuschreiten. Das heute bekannteste Beispiel ist das des Polizeioberleutnants Wilhelm Krützfeld. Der Vorsteher des Reviers 16 am Hackeschen Markt verjagte in den Morgenstunden des 10. November
1938 eine ganze Gruppe SA-Leute, die die Neue Synagoge in der Oranienburger Straße in Brand stecken wollten, und drängte die Feuerwehr, entgegen ihrer klaren Anweisung die bereits lodernden Brandherde zu löschen. Das brachte ihm am nächsten Tag einen scharfen Verweis durch den Berliner Polizeipräsidenten ein und in den folgenden Jahren eine Vielzahl Schwierigkeiten mit seinen Vorgesetzten, bis er sich 1942 frühpensionieren ließ. Krützfeld war einer der wenigen, allerdings nicht der einzige Berliner mit Zivilcourage. Ein nicht namentlich bekannter Hauptwachtmeister und ein Unteroffizier des Heeres bewahrten zum Beispiel in der Weinmeisterstraße in Mitte zwei ältere jüdische Frauen und ihre Kinder vor dem »Partei-Mob«, so die Exil-SPD.
Mit Sicherheit hat es in Berlin Dutzende, wenn nicht hunderte ähnliche Hilfeleistungen gegeben – aber eben auch zehntausende Fälle, in denen niemand half, in denen Menschen gedemütigt, ausgeraubt, gequält oder verschleppt wurden. Das Verhalten der Berliner in der »Reichskristallnacht« – ob dieser Begriff eine verharmlosende
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