Hitlers Berlin
stand nun die Freie Stadt Danzig im Mittelpunkt der gelenkten Nachrichten, Symbol des misslungenen Versuches eines Ausgleichs zwischen Polen und Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg. Die Sprache in den öffentlichen Verlautbarungen steigerte sich weiter in Kriegsrhetorik hinein. Am 26. Juli 1939 fand in der Reichshauptstadt eine große Luftschutzübung statt. Am folgenden Tag war der Tonfall in den gleichgeschalteten Zeitungen einheitlich: Berlin ist vorbereitet. Immer mehr Manöverberichte beherrschten die Spalten der verschiedenen und doch so ähnlich gewordenen Blätter. In den Illustrierten nahm die Zahl der Fotos von Panzern noch einmal zu. Goebbels notierte: »Der Krieg wird mit einem gewissen Fatalismus erwartet. Es muß fast ein Wunder geschehen, um ihn zu vermeiden.« Das spürten auch die Berliner und begannen, Lebensmittel zu horten.Am 28. August, drei Tage vor dem deutschen Angriff auf Polen, »möbelte« Goebbels daraufhin die Kreisleiter seiner Gauverwaltung auf, solche Hamsterkäufe zu unterbinden, gab das Vorhaben aber schon am folgenden Tag wieder auf. So recht traute er den Berlinern nicht. Für den Fall eines Vermittlungsbesuchs des polnischen Außenministers Józef Beck im letzten Augenblick fürchtete Goebbels »eine unaufhaltsame Welle des Optimismus« in Berlin. Doch Beck kam nicht; die deutschen Forderungen waren unerfüllbar. Der Revanchekrieg, seit 1933/34 Hitlers eigentliches Ziel, wurde Realität. 21
1939 – 1944
5 HEIMATFRONT
Fast normales Leben
Der 1. September 1939 war ein »grauer, wolkenverhangener Tag«. Der CBS-Korrespondent in Berlin, William L. Shirer, berichtete seinen Hörern in New York und ganz Amerika live über seine Eindrücke vom ersten Kriegstag in der Reichshauptstadt: »Bis jetzt gibt es nichts Ungewöhnliches im Berliner Straßenbild, außer daß das Radio in voller Lautstärke abwechselnd Marschmusik und Durchsagen bringt.« Joseph Goebbels notierte über den 1. September: »Die Bevölkerung ist ernst, aber gefaßt.« Mit öffentlicher Kriegsbegeisterung, wie es sie 1914 immerhin mancherorts in Berlin gegeben hatte, hatte die Führung des Dritten Reiches ohnehin nicht gerechnet – eher das Gegenteil befürchtet. Doch es blieb ruhig, in der Hauptstadt wie im ganzen Reich. Verwundert registrierten die Berichterstatter der Exil-SPD: »Die Vermutung, daß sich mit Kriegsausbruch die Arbeiter stärker gegen den Lohnabbau wehren würden, stellt sich bisher als irrig heraus. Jeder ist vielmehr froh, wenn er erreicht, als unabkömmlich klassifiziert zu werden.« Zu tief noch saß die Erinnerung an die Materialschlachten des Stellungskrieges in Frankreich und Belgien.
Adolf Hitler hatte den Befehl zum Krieg in der Neuen Reichskanzlei in Berlin gegeben. Am 31. August gegen Mittag erteilte er die Weisung, abends saß er mit Goebbels und Außenminister Joachim von Ribbentrop bis Mitternacht zusammen. Am frühen Morgen des nächsten Tages, gegen 5.40 Uhr, wurde dann aus der Regierungszentrale eine vorbereitete Proklamation Hitlers an die Wehrmacht verbreitet; wahrscheinlich gab der Reichskanzler sie selbst nach Eingehen der ersten Nachrichten über den Beginn des Angriffs frei. Hitler trieb sein Vabanque-Spiel an diesem
1. September auf einen neuen Höhepunkt: Wie würden die Polen auf den Angriff, wie die Briten und Franzosen auf die Aggression gegen ihren Verbündeten reagieren? Und wie die Deutschen? Gegen zehn Uhr mor
gens ließ Hitler sich vom Reichskanzlerpalais in die Krolloper fahren, zur außerordentlichen Reichstagssitzung. Doch anders als gewöhnlich gab es diesmal kaum spontanen Beifall bei den Berlinern, an denen der Konvoi der Mercedes-Staatskarossen vorbeirollte. Im Sitzungssaal waren die wegen Einberufungen frei gebliebenen etwa hundert Plätze rasch durch uniformierte Parteifunktionäre aufgefüllt worden; Reichstagspräsident Göring wies darauf sogar in seiner Eröffnungsadresse hin. Die Ersatz-Abgeordneten durften mit »abstimmen« über den Beitritt der Freien Stadt Danzig zum Großdeutschen Reich – aber das Ergebnis stand ohnehin von vornherein fest. Schon um 11 Uhr war Hitler wieder in der Reichskanzlei, um Erlasse und Telegramme zu formulieren sowie Diplomaten zu empfangen. 1
Die Menschen begrüßten den Beginn des Krieges nicht, aber sie nahmen ihn hin. Ab sofort war Verdunklung befohlen. Schon in der Nacht vom 1. auf den 2. September berichtete William Shirer seinen Hörern: »In Berlin läßt sich heute Abend etwas Seltsames beobachten.
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