Hitlers Berlin
Jahrzehnt später lag nicht nur die Neue Reichskanzlei in Trümmern, gesprengt von Pionieren der Roten Armee, sondern ganz Berlin, große Teile Deutschlands und Europas. Außer einigen Fundamentresten und nicht vollständig abgebrochenen Bunkeranlagen existiert heute nichts mehr von Speers Stein gewordener Kulisse des Hitler-Kults. 18 Sein wahres, hässliches Gesicht hatte das Dritte Reich genau zwei Monate vor der Einweihung der Neuen Reichskanzlei gezeigt: Vom 9. bis zum 12. November 1938 fand das schwerste Pogrom statt, das es in Mitteleuropa seit dem Spätmittelalter gegeben hatte. Bereits seit 1933 und verstärkt seit Erlass der Nürnberger Gesetze im Herbst 1935 war der bürokratische Druck auf jüdische Deutsche kontinuierlich gesteigert worden, unterbrochen nur kurz von den Olympischen Spielen. Der Anteil von Juden an der Berliner Gesamtbevölkerung war bis 1938 von knapp vier auf ungefähr zwei Prozent gefallen. Es waren bereits rund
60 000 Berliner Juden emigriert; gleichzeitig zogen Juden aus anderen, vor allem ländlichen Gegenden in die Millionenstadt, weil sie sich hier ein geringfügig weniger schwieriges Leben erhofften. Weitere Auswanderungen scheiterten an der Weigerung beinahe aller Länder, in größerer Zahl Flüchtlinge aufzunehmen, die nicht begütert waren oder keine Kontakte in das jeweilige Fluchtland hatten. In Berlin wie überall im Reich war die »Arisierung« vorangetrieben worden, also der Verkauf jüdischen Eigentums weit unter Wert an »Arier«. Die Polizei führte verstärkt so genannte Razzien in jüdischen Einrichtungen durch; am 10. Juni 1938 hatte Goebbels vor über 300 leitenden Beamten gefordert: »Nicht Gesetz ist die Parole, sondern Schikane. Die Juden müssen aus Berlin heraus. Die Polizei wird mir dabei helfen.« Kurz darauf hatte es verstärkt antisemitische Ausschreitungen von SA-Trupps, Hitler-Jungen und ganz normalen Bürgern gegeben, zum Beispiel in der Königsstraße am Alexanderplatz. Dem Schirmgeschäft Liechtenstein wurden drei Schaufenster eingeschlagen, vor dem Krawattengeschäft Kornblum etwa standen 200 bis 300 erregte Menschen und erzwangen die Schließung. Offensichtlich auf Verabredung hin plünderte ein wilder, nicht uniformierter Mob Ende Juni eines Morgens gegen fünf Uhr das jüdische Warenhaus Westmann in der Frankfurter Straße. Julius Streichers Hetzblatt De r Stürmer veröffentlichte seit Monaten die Namen und Adressen jüdischer Geschäfte. Aber nicht nur sie waren betroffen: Das Kino Alhambra am Kurfürstendamm wurde mitten in der Vorstellung von Polizisten gestürmt. Die Beamten riefen: »Juden Hände hoch!«, trieben alle hinaus, die im Schreck reagiert hatten, und transportierten sie ins Präsidium.
Doch all diese Ausschreitungen reichten nicht aus, um den bewusst geförderten Judenhass auszuleben, in Berlin ebenso wenig wie andernorts im Reich. Da die Aufrührer keinerlei Sanktionen zu fürchten hatten und den Opfern deutlich gezeigt wurde, dass sie keinen Schutz vom Staat erwarten konnten, wuchsen Aggressionslust und Gier bei zehntausenden kleinen Nazis weiter an. Keiner wollte die Gelegenheit verpassen, seine Gewaltfantasien straffrei auszuleben und sich nebenbei noch ein wenig zu bereichern. Die proletarische Massenbewegung, die die NSDAP und vor allem die SA neben ihrer Hauptrolle als Organisation der HitlerAnhänger immer auch gewesen waren, hatte in den deutschen Juden ideale Opfer gefunden.
Gleichzeitig verschärfte die Verwaltung ihre antisemitischen Maßnahmen: Ende Oktober wurden tausende Juden mit polnischen Pässen vom Schlesischen Bahnhof (heute Ostbahnhof) ins Grenzgebiet deportiert. Diese Aktion hatte eine unerwartete Folge: Herschel Grynszpan, der Sohn polnischer Juden, die von der »Aktion« betroffen waren, wollte ein Fanal setzen und schoss am 7. November in Paris einen deutschen Diplomaten nieder. Sofort nach Erhalt dieser Nachricht steigerte Goebbels die antisemitische Tonlage im Rundfunk und in den Zeitungen. Bereits am selben Abend kam es zu ersten Ausschreitungen; am folgenden Tag verbot die Gestapo alle jüdischen Zeitungen und Zeitschriften.Ausländische Korrespondenten in Berlin spürten, dass die Situation auf einen Exzess zusteuerte; die gewalttätigen Antisemiten sammelten sich, keineswegs aber das ganze Volk. Ruth Andreas-Friedrich, eine junge, im Geist skeptisch gebliebene Journalistin, notierte am 9. November in ihr Tagebuch: »Im Omnibus, auf der Straße, in Geschäften und Kaffeehäusern wird der Fall
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