Hitlers Berlin
oder eine ablehnende Sprachschöpfung des Berliner Volkmundes ist, muss offen bleiben – war trotz einzelner Ausnahmen kein Ruhmesblatt. Von einer »einheitlichen und massiven Willenskundgebung des deutschen Volkes gegen das Schreckensregime« jedenfalls, wie die Exil-SPD sich selbst einzureden versuchte, konnte keine Rede sein. 20
Populärer Diktator: Hitler in Berlin nach der Angliederung des Sudetenlandes, 5. Oktober 1938
Das erwies sich wenige Monate später, als Hitler seinen 50.Geburtstag feierte – in einer nie zuvor dagewesenen Demonstration von »Wille« und »Kraft«. Mehr als vier Stunden lang rollten am 20. April 1939 Panzer und Kanonen über Albert Speers Ost-West-Achse, marschierten Soldaten am Staatsoberhaupt vorüber. Goebbels überschlug sich vor Begeisterung: »Stürme des Beifalls. Der Führer wird vom Volk gefeiert, wie nie sonst ein sterblicher Mensch gefeiert worden ist. (…) Das Publikum rast vor Begeisterung. So sah ich unser Volk noch nie.« Hier musste der Propagandaminister nicht einmal besonders übertreiben: Überlieferte Fotos und Filme von Amateurkameraleuten belegen, dass die allgemeine Begeisterung auch abseits der Ehrentribüne vor der Technischen Hochschule Charlottenburg (heute Technische Universität) groß war. Bei Hitlers Rückkehr nach Berlin nach der »Zerschlagung der Rest-Tschechei« am 19. März 1939 hatte ihn zwar ebenfalls eine begeisterte Menschenmenge empfangen und gefeiert, aber hier hatte Goebbels noch »nachhelfen« und Berliner Parteigenossen mobilisieren müssen. Das war nötig, weil einerseits der Schlag gegen Prag in Deutschland weniger populär war als etwa die »Heimholung Österreichs ins Reich« im März oder die brutale Angliederung der sudetendeutschen Gebiete im Oktober 1938, und weil andererseits Mitte März 1939 schlicht Winterkälte herrschte, was den Willen der Berliner zum Feiern bremste. Einen Monat später, bei »Führerwetter«, also strahlendem Sonnenschein, waren weit über eine Million Einwohner der Reichshauptstadt ganz freiwillig auf den Beinen. Schon am Vorabend der Geburtstagsfeier war die Ost-West-Achse von Menschen umlagert. An beiden Tagen standen jeweils zehntausende Hitler-Anhänger auf dem Wilhelmplatz und jubelten, wann immer sich der Staatschef zeigte.
Die Exil-SPD stellte eine ungewöhnlich materialreiche Analyse des »Führergeburtstages« zusammen, doch letztlich überwog auch hier wieder das Wunschdenken der gerade aus Prag nach Paris geflüchteten Sozialdemokraten: »Über allem Fahnenprunk und Festeslärm lagerte der lähmende Druck der Kriegsangst.« Zwar erkannte auch der Berichterstatter: »Das will nicht besagen, daß der Führerglaube in Deutschland erledigt ist. Zweifellos ist er in breiten Schichten des Volkes noch lebendig.« Trotzdem blieb die Hoffnung auf eine kritische Grundhaltung der Bevölkerung gegenüber seiner Regierung spürbar: »Die Dokumente, die wir wiedergeben [Zeitungsüberschriften und Huldigungsgedichte begeisterter Volksgenossen], sind nicht nur Ausdruck einer propagandistischen Überanstrengung der Parteimaschine, sie sind zum Teil gewiß auch einer naiven Gläubigkeit entsprungen, die sich nicht so leicht geschlagen gibt. Um sie zu erschüttern, werden die Tatsachen noch lauter sprechen müssen als bisher.« Über die begeisterten Leserbriefe, die in Zeitungen und Zeitschriften abgedruckt wurden, vermerkte der Berichterstatter: »Mögen ihre Zuschriften auch stark redigiert sein, so machen sie doch im Ganzen einen durchaus echten Eindruck; sie vermitteln von der primitiven Denkweise gewisser Schichten des Volkes eine zutreffende Vorstellung.« Die Stimmung im Volk trafen eher die Kirchen: In den meisten Gemeinden fanden am 20.April 1939 Dankgottesdienste statt, teilweise wurden abstruse Fürbitten gesprochen.
In Berlin hielt sich trotz der nach der Besetzung Prags unmissverständlichen Warnungen Großbritanniens und Frankreichs an Hitler die insgesamt gute Stimmung auch in den folgenden Monaten. Gewiss spürten die Menschen, dass sich die Lage zuspitzte; im Frühsommer 1939 mehrten sich in der kontrollierten Presse und im Reichsrundfunk die Berichte über eine bevorstehende »Einkreisung« Deutschlands – während Hitler schon längst, nämlich am 23.Mai 1939 in der Neuen Reichskanz lei, seinen Generälen eine eindeutige Anweisung gegeben hatte: »Es entfällt also die Frage, Polen zu schonen, und bleibt der Entschluß, bei erster passender Gelegenheit Polen anzugreifen.« Immer häufiger
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