Hitlers Berlin
Die Cafés, Restaurants und Bierkeller sind voll. Vor ein paar Stunden war ich unterwegs, um etwas zu essen. Mein Restaurant sah von außen so dunkel aus, daß ich schon dachte, es sei geschlossen. Nachdem ich aber die verhangene Doppeltür passiert hatte, fand ich das Innere hell erleuchtet und voll von Menschen. Ich hatte keinerlei Schwierigkeiten, eine gute Mahlzeit, ein Glas Pils und eine Tasse Kaffee zu bekommen.« Am frühen Abend erlebte die Reichshauptstadt eine weitere Premiere: Der Krieg war gerade zwölf Stunden alt, da heulten zum ersten Mal die Sirenen über Berlin. Um 18.55 Uhr flogen zwei polnische Flugzeuge auf den östlichen Stadtrand zu. »Luftschutzalarm über Berlin«, notierte Goebbels: »Alles rennt in die Keller.« Shirer schrieb das Konzept für seinen Livebericht in einem Schutzraum. Nach nur fünf Minuten brachen die Behörden den Alarm ab. Er blieb folgenlos; von Bombenabwürfen der beiden Flugzeuge ist nichts bekannt geworden.
Die Berliner fanden sich rasch ab mit der neuen Situation. Shirer schilderte seine Eindrücke am 2. September: »Die Leute scheinen heute in etwas besserer Stimmung zu sein, nachdem sie die erste Nacht bei angeordneter Verdunkelung hinter sich gebracht haben, was schon eine gewisse Gewöhnung verlangt. Die meisten von ihnen sind wohl gegen ein Uhr morgens zu Bett gegangen. Da war es ziemlich klar, daß die bis dahin womöglich von polnischer Seite zu erwartenden Luftangriffe hätten erfolgen müssen. (…) Für meine Begriffe bot die Stadt heute nach außen hin ein ziemlich normales Bild. Die Läden hatten geöffnet, wobei natürlich der Einkauf rationierter Waren vom Besitz von Bezugsscheinen abhängt. Die Arbeit auf den Baustellen ging normal weiter.Allerdings gab es weit weniger Autos auf den Straßen als gewöhnlich.« An diesem und am folgenden Tag, einem Wochenende, fanden in der Voßstraße hektische Besprechungen und Treffen statt. Hitler diktierte eine Proklamation nach der anderen, allein nach dem Verstreichenlassen des britischen Ultimatums am 3. September um elf Uhr und der folgenden Kriegserklärung Großbritanniens an Deutschland vier Aufrufe: einen an das deutsche Volk, je einen an die Soldaten an der Ost- und der Westfront und einen an die NSDAP. Am Nachmittag folgten militärische Weisungen und Besprechungen. So viel Ähnlichkeit mit dem üblichen Betrieb in einer Regierungszentrale hatten die Vorgänge in der eigentlich ausschließlich zu Zwecken der Repräsentation und Einschüchterung ausländischer Besucher errichteten Neuen Reichskanzlei nie wieder. 2
»Die Stimmung im Volke ist ruhig und gefaßt, voll einer verbitterten Entschlossenheit. Und so soll es auch bleiben«, heißt es über den 3. September in Goebbels’ Tagebuch. Der Wirklichkeit näher kam wohl Albert Speer, der dreißig Jahre später über diese ersten Tage des Krieges in seinen Erinnerungen schrieb: »Die Straßen blieben leer. Auf dem Wilhelmplatz fand sich keine Menschenmenge ein, die nach Hitler rief. Es entsprach der desolaten Stimmung, daß Hitler eines Nachts seine Koffer in die Autos packen ließ, um nach Osten, an die Front zu fahren. Ich war von seinem Adjutanten, drei Tage nach dem Angriff auf Polen, zur Verabschiedung in die Reichskanzlei gerufen worden und begegnete einem Mann, der in der provisorisch verdunkelten Wohnung über Kleinigkeiten ungehalten wurde. Die Wagen fuhren vor und er verabschiedete sich kurz von seinem verbleibenden Hofstaat. Kein Mensch auf der Straße nahm von diesem historischen Ereignis Notiz: Hitler fuhr in den von ihm inszenierten Krieg. Natürlich hätte Goebbels Jubel in beliebiger Menge aufbieten können; aber offenbar war auch ihm nicht danach zumute.« Der Oberste Befehlshaber verließ am 3. September gegen 21 Uhr zum ersten Mal in diesem Krieg seine Hauptstadt. Eine Wortschöpfung begleitete die Deutschen von nun an: Wo immer Hitler sich aufhielt, war das »Führerhauptquartier«; von dort ergingen jetzt die wichtigsten Befehle, dort fielen alle wesentlichen Entscheidungen. So gut wie nie wurde offiziell mitgeteilt, wo sich das Führerhauptquartier gerade befand. Obwohl Hitler in den letzten drei Monaten 1939 an 78 von 92 Tagen in Berlin war und 1940 insgesamt sogar 200 Tage, gab es kaum noch zuvor angekündigte Termine. In den Jahren 1941 bis 1944, in denen er sich nur noch zwischen acht Wochen und zehn Tagen in der Reichshauptstadt aufhielt, ging die Zahl seiner öffentlichen Auftritte bis auf null zurück. Über den Vormarsch der
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