Hitlers Berlin
Propagandaministeriums, dem Shirer sein Manuskript vor jeder Sendung vorlegen musste, interessanterweise. Er hätte lauten sollen: »Fast jeder, den ich heute traf, konnte mit einer Handvoll Splitter aufwarten, die nach dem Angriff entweder von der Straße oder in den Gärten aufgesammelt wurden.« Goebbels schrieb: »Der vierstündige Luftalarm hat ganz Berlin in Aufruhr gebracht. Kolossale Wut auf die Engländer. (…) Nun ist Berlin auch mitten im Kriegsgeschehen. Das ist gut so.« 8
Goebbels’ Taktik des Herunterspielens erwies sich als kurzsichtig: In den kommenden Nächten flog die RAF vier weitere Angriffe auf die Reichshauptstadt, den schlimmsten in der Nacht zum 29. August. Jetzt gab es die ersten Opfer unter der Zivilbevölkerung; in Kreuzberg, zwischen Kottbusser Tor und Kottbusser Brücke, starben acht Menschen, weitere 16 wurden verletzt. Insgesamt zählte man 13 Tote und 33 Verletzte. Die britischen Angriffe brachten Hitler, der seit gut einer Woche in seiner Alpenresidenz bei Berchtesgaden ausgespannt hatte, zum Toben; er kehrte umgehend zurück: »Der Führer will in der Zeit, da Berlin bombardiert wird, auch selbst hier sein. Er ist richtig geladen. Schlechte Aus sichten für die Engländer«, schrieb Goebbels am 30. August. Sorge um sein eigenes Leben brauchte Hitler nicht zu haben, hatte doch sein privater Bunker unter dem 1935/36 errichten Festsaal in den Ministergärten eine 1,60 Meter starke Stahlbetondecke – sie schützte vor den Bomben der ersten Kriegsjahre absolut. Aus dieser Sicherheit heraus befahl er Göring sofortige »Vergeltungsangriffe« auf das Londoner Hafenviertel, die ab der Nacht zum 31. August begannen – und bei weitem stärker waren als die Attacken der RAF auf Berlin. Doch konnten mehr Bomben auf die britische Hauptstadt die Wirkung der Luftangriffe auf die deutsche Hauptstadt nicht wettmachen. Der Propagandaminister erkannte das Problem: »Berlin ist etwas müde. Das bleibt nicht aus. (…) Ich lasse in Berlin die Schulen später beginnen. Die Kinder haben sonst keinen Schlaf mehr. Und das wirkt sich schlecht aus. Die Berliner haben in der Nacht fabelhafte Disziplin gehalten.« Dagegen sei in London »starke Mißstimmung« unter der Bevölkerung zu konstatieren.
Doch das genügte Hitler nicht. Überraschend trat er bei einer Kundgebung im Sportpalast auf, mit der am 4. September das »Kriegswinterhilfswerk« eröffnet wurde. Eine Passage aus der dort gehaltenen Rede gehört zu seinen bekanntesten Äußerungen überhaupt: »Und wenn man in England heute sehr neugierig ist und fragt: ›Ja, warum kommt er denn nicht?‹ Beruhigt euch, er kommt! Man muß nicht immer so neugierig sein. (…) Wenn die britische Luftwaffe zwei- oder drei- oder viertausend Kilogramm Bomben wirft, dann werfen wir jetzt in einer Nacht 150 000,
180 000, 230 000, 300 000, 400 000, eine Million Kilogramm. Wenn sie erklären, sie werden unsere Städte in großem Maße angreifen – wir werden ihre Städte ausradieren!« Der SD registrierte die Reaktion der Berliner auf diese Rede: »Allgemein rief sie größte Freude und Begeisterung hervor, wobei der optimistische Inhalt und die sarkastische Art, mit der der Führer über England sprach, einen besonders tiefen Eindruck gemacht hat. (…) Die nachhaltigste Wirkung aber habe die eindeutige Antwort auf die Frage der Engländer, warum er denn nicht komme: ›Beruhigt euch, er kommt!‹ gemacht. Diese Worte hätten dazu beigetragen, daß aus der Rede der Schluß gezogen wurde, daß es auf jeden Fall zu einem Großangriff komme, und daß dieser Großangriff auch bald erfolge.« William Shirer war von dieser Passage in Hitlers Rede so beeindruckt, dass er sie seinen Hörer in derselben Nacht Wort für Wort übersetzte. 9 Jetzt eskalierte der Bombenkrieg. Die Luftwaffe flog vom besetzten Frankreich aus Angriff auf Angriff, Großbritannien hielt mit seinen we sentlich wenigeren Langstrecken-Bombern dagegen. Im September fielen fast zwanzig Mal soviel deutsche Bomben auf London wie britische auf Berlin – 7260 Tonnen gegenüber 390 Tonnen, insgesamt kamen dabei 6954 britische Zivilisten ums Leben gegenüber etwa 800 deutschen. Trotz dieser vergleichsweise »günstigen« Zahlen erregte sich Hitler besonders über den bis dahin schwersten Angriff der RAF auf Berlin in der Nacht vom 23. zum 24. September, der mit 84 Flugzeugen vor allem Schäden in Moabit, Tempelhof und Charlottenburg verursachte, 22 Berliner das Leben kostete, 83 verletzte und 781
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