Hitlers Berlin
Winterhager zu Recht, »am Schauplatz Berlin greifen Lokal- und Nationalgeschichte so eng ineinander, dass es nur schwer möglich ist, den spezifischen Berliner Beitrag herauszustellen gegenüber jenen Formen des politischen und militärischen Widerstandes, die mit Berlin im wesentlichen nur durch seine Hauptstadtrolle verknüpft waren.« Damit mag es zusammenhängen, dass auch sechs Jahrzehnte nach dem Untergang des Dritten Reiches keine große Darstellung des Widerstandes in Berlin existiert, wie sie beispielsweise für Bayern, aber auch für Mannheim, Dortmund, Essen und viele andere Städte vorliegt. Zwar gibt es einige, meist bezirkshistorisch angelegte Arbeiten, doch genügen sie selten wissenschaftlichen Ansprüchen. Erschwerend kommt hinzu, dass in der DDR
40 Jahre lang systematisch im Sinne einer »parteilichen Geschichtsschreibung« der tatsächliche Widerstand der Berliner Arbeiterschaft verfälscht wurde, indem man stets seine vermeintliche »Lenkung« durch die Exil-KPD behauptete. In Wirklichkeit waren solche Kontakte eher spärlich; die verklärenden DDR-Arbeiten zum kommunistischen »Antifaschismus« in der Hauptstadt sind daher praktisch unbrauchbar. Trotz der unbefriedigenden Forschungslage zum lokalen Widerstand in Berlin lassen sich einige Punkte festhalten. Neben der Hauptstadtfunktion war es die schiere Größe, die Berlin bedeutend machte: Kein Ort in Deutschland war für den nationalsozialistischen Repressionsapparat unübersichtlicher. Die so genannte Stapo-Leitstelle Berlin, die regionale Abteilung der Gestapo, verfügte 1941 zwar über 712 Beamte. Aber selbst wenn man das Personal in den Referaten für »Gegnerforschung« der Gestapozentrale hinzuzählt, so bleibt doch in Berlin ein Verhältnis von 4 000 Einwohnern pro Gestapo-Mitarbeiter. Zum Vergleich: In der DDR betrug das Verhältnis von Einwohnern zu hauptamtlichen Mitarbeitern des Ministeriums für Staatssicherheit 1989 etwa 170 zu eins. Die Allgegenwart der Gestapo im Dritten Reich ist eine Legende; richtig ist jedoch, dass ihre Beamten, sobald sie erst einmal eines Verdächtigen habhaft waren, praktisch alles mit ihm tun konnten. Wirklich omnipräsent waren vielmehr Denunzianten, die aus verschiedenen, häufig persönlichen Motiven andere Menschen anzeigten, und vom Nationalsozialismus überzeugte »Parteigenossen«, zum Beispiel die berüchtigten Blockwarte. Auch in Berlin gab es davon zehn-, wenn nicht hunderttausende. Trotzdem war in der Anonymität der Millionenstadt die Gefahr der Denunziation immerhin noch etwas geringer als in mittelgroßen Städten oder gar Dörfern. Daher tauchten in Berlin mehr verfolgte Juden unter als irgendwo sonst in Deutschland; deshalb konnten hier bis in den Zweiten Weltkrieg hinein Kreise von ehemaligen Sozialdemokraten und Gewerkschaftern Verbindungen aufrechterhalten. Die ehemals kommunistischen Milieus wurden von der Verfolgung durch die Gestapo besonders getroffen; in den dreißiger Jahren stellten ehemalige KPDMitglieder die mit Abstand größte Gruppe der politischen Häftlinge und zahlten den höchsten Blutzoll. Ungeachtet dessen gab es immer wieder besonders in Berlin Versuche, Kontakte zwischen dem Nationalsozialismus gegenüber skeptischen bis ablehnenden Menschen aufzubauen – im NS-Staat war allein das ein Verbrechen, das ins Gefängnis, aufs Schafott oder ins KZ führen konnte. Ein seit 2003 erscheinendes, leider stark auf DDR-Arbeiten fußendes biografisches Lexikon zum Widerstand in Berlin verzeichnet mehr als 12 000 Personen, die sich in der Reichshauptstadt dem Regime wie auch immer widersetzt haben. Verdreifacht man hypothetisch angesichts der selbstverständlich hohen »Dunkelziffer« diese Zahl, so käme man immer noch auf weniger als ein Prozent »Widerständler« im weiteren Sinne in Berlin. Solch eine Hochrechnung ist spekulativ, aber sie vermittelt ein Gefühl für die begrenzte Bedeutung regimekritischen Verhaltens im Alltag.
Über spontanen Widerstand »von unten« in Berlin gibt es bis heute keinen Überblick. Solches »resistente« Verhalten reichte von der Nichtteilnahme an NS-Veranstaltungen und dem Verweigern des Hitler-Grußes über die Weitergabe von feindlichen Flugblättern und den verbotenen Umgang mit Juden oder Zwangsarbeitern bis hin zu defätistischen Äußerungen. All das konnte als »Heimtücke« oder »Feindbegünstigung« mit dem Tode bestraft werden, wenn es angezeigt wurde, und muss daher ebenfalls als Widerstand betrachtet werden. Dem jungen
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