Hitzschlag: Ein Fall für Heller und Verhoeven (German Edition)
seit nunmehr sechseinhalb Jahren, machte ein betroffenes Gesicht. »Tut mir leid.«
»Kein Problem«, beeilte sich Merle, sie zu beruhigen. »Ich habe dich bloß nicht kommen hören.«
»Warum bist du nicht drin?«
»Es ist helllichter Tag. Außerdem gefällt es mir hier draußen. «
Kira glaubte ihr nicht, aber sie ließ es bei dieser Antwort bewenden und nahm sich stattdessen ein Brötchen aus dem Korb auf dem Tisch.
»Und wie war’s bei dir?«
»Ach, eigentlich ganz ruhig«, antwortete Kira, die als Internistin in der Paulinenklinik arbeitete und gerade erst aus dem Nachtdienst kam. »Aber wie immer war die Übergabe die reinste Katastrophe.«
»Schäfer wieder?«, lächelte Merle und meinte einen Kollegen ihrer Partnerin, mit dem es ständig Reibereien gab.
»Frag nicht!« Kira lachte auch. »Manchmal habe ich wirklich das Gefühl, dass er die Dinge absichtlich so in die Länge zieht, um nicht nach Hause zu müssen. Aber wehe, wenn er ausnahmsweise mal selbst was vorhat.« Sie schüttelte unwillig den Kopf. »In einem Punkt allerdings hat er recht: Bei den älteren Patienten macht sich die Hitze jetzt doch zunehmend bemerkbar.«
Merle Olsen schenkte sich eine zweite Tasse Kaffee ein. »Kein Wunder«, stöhnte sie mit einem kurzen, fast ärgerlichen Blick in den wolkenlosen Himmel. »Wenn das so weitergeht, verdorren uns auch noch die letzten Rosen.«
Kira nickte, während ihr Blick auf den Ordner fiel, der auf dem hübschen, schwarz lackierten Jugendstiltisch lag und in dem ihre Lebensgefährtin alles sammelte, was in der Presse und im Internet über den Artisten geschrieben wurde, nüchtern und mit beinahe unheimlicher Akribie. Fast wie ein Historiker,
der sich einen Überblick über das vorhandene Quellenmaterial verschaffte. Kira biss sich auf die Lippen. Dabei hatte ihre Lebensgefährtin unmittelbar nach der Tat zunächst mit Bestürzung auf die Berichterstattung über ihren Fall reagiert.
»Wen, um Gottes willen, geht das was an?«, hatte sie mit tränenerstickter Stimme geflüstert, als sie bei einem gemeinsamen Frühstück wie diesem auf den ersten Artikel gestoßen war, der ihre Vergewaltigung thematisiert hatte.
Und Kira hatte ihre Freundin in die Arme genommen, wütend und fassungslos, dass der Mensch, den sie liebte, von einem fremden Reporter mit ein paar Federstrichen zu einer »Merle O.« degradiert worden war. Oder – noch schlimmer – schlicht zum »dritten Opfer des Artisten«.
Sie hatte die Zeitung in den Müll geworfen und den Beutel anschließend sofort zur Tonne an der Straße getragen, voller Verständnis dafür, dass ihre Freundin sich nackt und bloßgestellt fühlte. Verraten von einem Reporter, der ihr niemals persönlich begegnet war und der trotzdem zu wissen glaubte, wie sie sich fühlte. Kurz danach war Merles Stimmung allerdings umgeschlagen. Von einer Sekunde auf die andere und ohne äußeren Anlass. Zumindest hatte Kira beim besten Willen keinen Anlass entdecken können.
Dennoch hatte das Ziel, den Hintergründen der schlimmsten Erfahrung ihres bisherigen Lebens auf die Spur zu kommen, schnell einen immer größeren Raum in Merles Denken eingenommen und sich innerhalb weniger Tage zu einer regelrechten Besessenheit ausgewachsen. Eine Entwicklung, die Kira mit stetig wachsender Sorge beobachtete. Doch sie hatte auch keine Idee, wie sie ihre Freundin stoppen konnte. Merle hatte Archive durchforstet und sämtliche Berichte gelesen, die über die Taten des Artisten erschienen waren. Sie hatte die vollständigen Namen und Adressen sämtlicher anderen Opfer herausgefunden und Kontakt zu den betreffenden
Frauen aufgenommen. Sie hatte sich schmerzliche Abfuhren eingehandelt und lange, ebenso schmerzliche Gespräche geführt. Und die Ergebnisse ihrer Recherchen steckten in diesem Ordner dort auf dem Jugendstiltisch, der eines der ersten Möbelstücke war, die sie zusammen gekauft hatten.
Unwillkürlich musste Kira an den Nachmittag denken, an dem sie den Tisch entdeckt hatten – in einem schmuddeligen kleinen Altwarenladen war das gewesen, irgendwo in einer Seitengasse zur Taunusstraße –, und mit einem Mal fühlte sie eine elementare Wut in sich aufsteigen. »Warum kannst du nicht endlich damit aufhören?«, platzte es aus ihr heraus, bevor sie etwas dagegen unternehmen konnte.
Ihre Freundin blickte irritiert auf. »Womit?«
»Dich zu quälen.«
Merle sah den Ordner an. Verständnislos zunächst. Doch dann wich das Unverständnis einem Ausdruck von
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