Hitzschlag: Ein Fall für Heller und Verhoeven (German Edition)
Heller dachte an Iris Vermeulen und nickte.
»Verstehen Sie mich nicht falsch«, fuhr Dr. Kerr fort, »als Normalbürger ist es meiner Meinung nach Ihr gutes Recht, die Dinge so zu sehen. Aus der Distanz heraus und mit allen Schutzmechanismen, mit denen die Natur uns freundlicherweise ausgestattet hat. Aber genauso wenig, wie Sie und ich diese Dinge über ein gewisses Maß hinaus persönlich nehmen
können und sollen, sind Menschen, die dergleichen am eigenen Leib erlebt haben, in der Lage, das Geschehen wieder von sich selbst zu abstrahieren.«
»Sicher.« Winnie Heller kniff misstrauisch die Augen zusammen. Sprachen Sie tatsächlich noch immer über den Fall? Sie sah verstohlen auf die Uhr und stellte erleichtert fest, dass die vorgesehene Gesprächszeit schon fast abgelaufen war. »Lassen wir Irina Portner doch einfach mal außen vor«, beeilte sie sich, der Unterhaltung wieder eine eindeutigere Richtung zu geben. »Und nehmen wir an, das Kriterium, nach dem der Artist seine Opfer auswählt, hätte tatsächlich etwas mit der Stärke der Frauen zu tun. Mit ihrer Persönlichkeit …«
»Ja?«
»Was dann?«
Die Psychologin verzog die Lippen zu einem sehr anziehenden Lächeln. »Dann müssen Sie sich als Nächstes fragen, wo beziehungsweise in welchem Zusammenhang Ihrem Mann die Stärke der betreffenden Frauen aufgefallen ist.«
Winnie Heller überlegte einen Augenblick. »Ich nehme an, er ist ihnen begegnet.«
»Okay.« Ein beifälliges Nicken, offenbar war auch sie dieser Meinung. »Wo?«
»Na ja, bislang haben wir da – wie Sie wissen – leider keinerlei Schnittmengen gefunden«, antwortete Winnie. »Und das, obwohl wir uns sämtliche Bereiche des täglichen Lebens vorgenommen haben. Wo die Frauen einkaufen, wo sie tanken, bei welchem Friseur sie sich die Haare machen lassen und so weiter und so fort. Aber abgesehen davon, dass sicherlich jede von ihnen schon mal im Kaufhof, am Bahnhof oder im Staatstheater war, haben wir keine Übereinstimmungen gefunden.« Sie seufzte. »Sie sind so verschieden, wie man nur sein kann.«
»Und doch haben sie etwas gemeinsam.« Dr. Kerr blickte
zum Fenster, wo hinter den geschlossenen Lamellen die Sonne trotz des Spätnachmittags mit ungebremster Wucht vom Himmel stach.
Winnie Heller sah sie an. »Was?«
Die Augen der Psychologin kehrten zu ihr zurück. »Das ist doch offensichtlich.«
»Ach ja?«
Dr. Kerr nickte. »Sicher«, entgegnete sie lapidar. »Ihren Vergewaltiger.«
6
»Daaaarling?«
Brenda Hartwig verdrehte die Augen. Darling! So nannte er sie immer, wenn er ein paar Tage drüben in den Staaten gewesen war, und ganz zu Anfang hatte sie noch gescherzt, er tue das nur, um zu verbergen, dass ihm die Umstellung von seiner New Yorker Geliebten auf seine deutsche Gespielin so schwerfiel. Doch nachdem Tom ihre Frotzelei erstaunlich empört von sich gewiesen hatte (vorher wäre sie nie ernsthaft auf den Gedanken gekommen, dass er sie betrog), reagierte sie geradezu allergisch auf die Anrede.
»Hey, Darling!«, hörte sie seine Stimme erneut, allerdings lauter als zuvor.
»Was ist?«, rief sie, indem sie ihren Putzlappen wütend in den Eimer vor sich warf. Da der hohe Herr schon von Haus aus extrem unordentlich war und es zudem geschafft hatte, in den wenigen Tagen seit seiner Rückkehr die gewissenhafte Grundreinigung, die sie während seiner Abwesenheit vorgenommen hatte, komplett zunichtezumachen, sah es dort buchstäblich aus wie bei Hempels unterm Sofa.
»Du, sag mal …« Sein Gesicht erschien in der Tür zur Küche. Er hatte eine ganze Menge Farbe bekommen auf dieser
Reise. Offenbar war das Wetter in New York genauso gut gewesen wie hier.
»Ja?«
»Hast du in der Zwischenzeit mal den Wagen benutzt?«
»Was meinst du?«
»Während ich drüben in den Staaten war.«
Sie runzelte die Stirn, weil sie keine Ahnung hatte, worauf er hinauswollte. »Natürlich habe ich den Wagen benutzt«, versetzte sie. »Wie glaubst du, dass ich sonst zur Arbeit gekommen sein sollte?«
»Nein.« Er schüttelte ungeduldig den Kopf. »Ich meine nicht deinen Wagen. Ich meine den Mercedes.«
»Den Mercedes?« Sie sah hoch. »Wieso sollte ich den Mercedes benutzen?«
Deinen Schatz, dein Heiligtum, den Traum deiner schlaflosen Nächte, setzte sie in Gedanken hinzu, ich werde mich hüten!
»Keine Ahnung.« Er lehnte den Rücken gegen den Türrahmen und starrte nachdenklich vor sich hin.
Seine Züge waren bis auf die Augen, die immer irgendwie unbeteiligt
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