Hitzschlag: Ein Fall für Heller und Verhoeven (German Edition)
psychotherapeutischer Behandlung laut Merkblatt zur Polizeidiensttauglichkeit zu den sogenannten eventuellen Ausschlussgründen gehörte, hatte sie die vierzehnmonatige Therapie, derer sie sich nach dem Unfall ihrer Schwester hatte unterziehen müssen, bei ihrer Bewerbung geflissentlich verschwiegen. Entsprechend groß war ihre Angst, dass die Sache irgendwann doch noch herauskam und sie gegebenenfalls die Karriere kostete, auch wenn sie zugeben musste, dass diese Angst in der letzten Zeit ein wenig abgenommen hatte. Trotzdem
machten sie Gespräche mit Psychologen, bei denen es nicht oder zumindest nicht ausschließlich um irgendeinen Fall ging, nach wie vor nervös.
»Und haben Sie schon eine Idee, nach welchen Kriterien der Täter seine Opfer auswählt?«, riss Dr. Kerrs Stimme sie unsanft aus ihren Gedanken, und Winnie Heller brauchte einen Moment, um zu verstehen, dass die Psychologin über den Artisten sprach. Über den Fall, an dem sie arbeitete.
»Das ist eins unserer Hauptprobleme«, entgegnete sie, froh, dass auf diese Weise Zeit verstrich, in der es nicht um sie ging. Um ihre Probleme. Um die Leichen in ihrem Keller. »Das Aussehen, die Biographien, die Lebensumstände der Frauen – all das passt einfach nicht zusammen.«
Dr. Kerr hob die Hand. »Das würde ich nicht so sehen.«
»Wie würden Sie es denn dann sehen?«
»Sie müssen sich klarmachen, dass selbst zutiefst pathologische Zustände eine innere Logik haben. Bloß dass diese innere Logik je nach Betrachter auf den ersten Blick erkennbar ist oder eben nicht.«
»Sie meinen, der Artist hat ein Konzept?«
»Natürlich hat er das«, nickte Dr. Kerr. »Wie willkürlich uns sein Tun auch erscheinen mag, von seinem Standpunkt aus ist es die logischste Sache der Welt. Die Wahl seiner Opfer ist in keiner Weise zufällig, auch wenn das auf Sie bislang noch so wirken mag. Aber irgendetwas verbindet all diese Frauen. Es gibt einen roten Faden. Und wenn Sie diesen roten Faden finden, finden Sie den Mann, den Sie suchen. Oder zumindest etwas, das Sie über kurz oder lang zu ihm führt.«
… oder lang , echote es hinter Winnie Hellers Stirn. Wie lange werden wir brauchen? Wie viele Frauen müssen noch bezahlen, bis wir wissen, was ihn antreibt?
»Warum merken seine Opfer nicht, dass er sie beobachtet?«, schnitt sie eine weitere Frage an, die sie nicht losließ.
»Entweder«, entgegnete die Psychologin, »er beobachtet sie gar nicht …«
»Aber das muss er«, unterbrach Winnie Heller sie umgehend wieder. »Wie sollte er sonst an seine Informationen kommen? «
»Na ja, in Zeiten wie diesen ist es leichter denn je, einen Menschen aus einer gewissen Distanz heraus im Auge zu behalten …«
»Einverstanden«, sagte Winnie. »Aber Google Earth verrät Ihnen noch lange nicht, zu welchen Zeiten der Ehemann für gewöhnlich außer Haus ist und welches Fenster die Sicherheitslücke innerhalb der Alarmanlage darstellt.«
»Das ist richtig«, räumte die Ärztin ein. »Andererseits stelle ich immer wieder mit einer gewissen Fassungslosigkeit fest, wie viel die Leute von sich preisgeben, wenn sie im Internet sind.« Sie rückte ihre Brille zurecht. »Dinge, die sie ihrem besten Freund nicht anvertrauen würden, verraten sie umso bereitwilliger einem Spiderman78 oder einer AngelbelleXY. Dass die Hemmschwellen in diesem Bereich so niedrig sind, liegt natürlich in erster Linie daran, dass das Netz den Menschen eine Anonymität vorgaukelt, die es – realistisch betrachtet – überhaupt nicht gibt. Trotzdem gehen fast alle wie selbstverständlich davon aus, dass sie Spiderman78 oder AngelbelleXY im wahren Leben niemals begegnen werden.«
»Das haben die Kollegen alles abgecheckt«, widersprach Winnie. »Tatiana Schwarz bewegt sich überhaupt nicht im Internet. Sie besitzt nicht einmal eine E-Mail-Adresse. Und alle anderen haben angegeben, von jeher äußerst vorsichtig gewesen zu sein.«
Dr. Kerrs Miene war belustigt. »Würde man zugeben, wenn es anders wäre?«, fragte sie.
Winnie Heller dachte an Irina Portner und den Schatten der Unsicherheit, der über das Gesicht der jungen Russin gehuscht
war, als sie sie nach dem ungesicherten Fenster gefragt hatte. Sie war sich ziemlich sicher, dass Jan Portners Witwe sie zumindest in diesem Punkt belogen hatte. Aber sie hatte keine Idee, warum. »Sie haben eben von zwei denkbaren Erklärungen gesprochen«, kam sie zum Ausgangspunkt ihrer Diskussion zurück. »Dafür, dass die Frauen ihren Mann bis
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