Hitzschlag: Ein Fall für Heller und Verhoeven (German Edition)
auf, »Sie haben doch selbst eine Geiselhaft erlebt und …«
Die abrupte Rückkehr zum eigentlichen Grund ihres Hierseins hebelte Winnie für einige Sekunden völlig aus. »Was hat das damit zu tun?«, fragte sie entgeistert.
»Ich habe die Berichte gelesen«, erklärte Dr. Kerr anstelle einer Antwort. »Eine Ihrer Mitgefangenen zeigte damals sehr deutliche Anzeichen für etwas, das ich durchaus in die Nähe eines Stockholm-Syndroms rücken würde, und …«
»Ach so.« Darum ging es also! Nur darum … Winnie hatte Mühe, ihre Erleichterung zu verbergen. »Nein, von so etwas habe ich nicht gesprochen. Es ist nicht diese Art von Besessenheit. «
Dr. Kerr verzog keine Miene. »Welche sonst?«
»Merle Olsen ist nicht fasziniert von ihm. Sie ist entschlossen, ihn zu töten.«
»Hat sie Ihnen das gesagt?«
»Nein.«
»Woran machen Sie diese Annahme dann fest?«
An ihrem Blick, dachte Winnie, aber sie hütete sich, diesen Gedanken laut auszusprechen. Stattdessen sagte sie: »Ihre Lebensgefährtin scheint auch sehr besorgt über ihr Verhalten zu sein.«
»Sie meinen, so wie Sie?«
Achten Sie auf Ihr verdammtes Mundwerk, Heller!
»Vergessen Sie’s«, sagte Winnie, und zu ihrer größten Überraschung hakte die Psychologin nicht weiter nach.
»Was ist mit der Lehrerin?«, fragte sie stattdessen.
»Iris Vermeulen?« Winnie schob die Unterlippe vor, während sie sich die Sache durch den Kopf gehen ließ. »Die ist eigentlich die Coolste, würde ich sagen. Natürlich hat die Tat sie ziemlich mitgenommen, das will ich nicht sagen. Aber sie scheint trotz allem sehr gefasst damit umzugehen.«
»Weder in die eine noch in die andere Richtung extrem, meinen Sie?«
»Ja, ich glaube, das habe ich gemeint.«
»Haben Sie jemanden, mit dem Sie über solche Dinge reden können?«
Die Frage erwischte Winnie kalt. »Sie meinen, über den Fall?«, fragte sie, um Zeit zu gewinnen.
Amanda Kerr lächelte. »Ich meine, über Ihre Gedanken und Gefühle.«
»Klar.«
»Wen?«
Meine Fische, dachte Winnie. Sind verdammt gute Zuhörer, die Jungs. Und soooo diskret. Eine Eigenschaft, die nicht zu unterschätzen ist, wenn man solche Probleme hat, wie ich sie habe. Laut sagte sie: »Kollegen hauptsächlich.«
»Was ist mit Ihrem Partner?«
»Sie meinen Verhoeven?« Sie hatte Mühe, ihre Überraschung zu verbergen. Dabei war die Frage ja eigentlich nicht gerade abwegig. Immerhin arbeiteten sie jetzt schon fast zwei Jahre zusammen. »Na ja«, sagte sie eilig, als sie bemerkte, dass Dr. Kerr auf eine Antwort von ihr wartete, »wir tauschen uns natürlich aus. Aber … so richtig eng sind wir eigentlich nicht.«
Eigentlich …
Zu Winnie Hellers Überraschung ließ es die Psychologin auch dieses Mal bei der wenig aussagekräftigen Antwort bewenden. Sie sah nicht einmal auf, sondern schrieb irgendetwas auf den Gesprächsbogen vor sich. Als die Gegensprechanlage
auf dem Schreitisch zu summen begann, fuhr Winnie erschrocken zusammen.
»Verzeihung, Frau Doktor, aber denken Sie an Ihren Termin? «, schepperte gleich darauf die Stimme von Dr. Kerrs Sekretärin aus dem Gerät, und Winnie Heller hätte sie am liebsten umarmt.
»Wir sind in etwa fünf Minuten fertig«, gab die Psychologin in durchaus nicht ungeduldigem Ton zurück.
»Aber …«
Amanda Kerr drückte abermals auf die Sprechtaste. »Keine Sorge, ich werde nicht zu spät kommen, okay?«
»Okay, alles klar.«
Winnie Heller schenkte der Psychologin ein teilnahmsvolles Lächeln und griff nach ihrer Handtasche.
Doch Dr. Kerr ignorierte diese Geste des Aufbruchs. »Die Welt ist ein ziemlich seltsamer Ort«, bemerkte sie stattdessen anscheinend ohne jeden Zusammenhang. »Und die menschliche Wahrnehmung ist genauso seltsam. Lassen Sie fünf Menschen denselben ihnen fremden Raum beschreiben, und die Leute zeichnen Ihnen fünf völlig unterschiedliche Bilder. Dem einen fällt auf, dass eins von den Gemälden an der Wand ein paar zehntausend Euro wert und die Teekanne auf dem Tisch mindestens sechzig Jahre alt ist, während der andere Ihnen hinterher als Erstes erklärt, dass die Kamelie auf der Fensterbank dringend mal wieder gegossen werden müsste. Die Frau, die gerade ihr Baby verloren hat, wird das liegen gebliebene Stofftier bemerken, obwohl davon nicht viel mehr als eine Pfote unter einem der Sessel hervorlugt. Und wieder ein anderer erzählt Ihnen, dass der Raum auf ihn irgendwie düster gewirkt habe und er deshalb vermute, dass dort viel gestritten werde.
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