Hitzschlag: Ein Fall für Heller und Verhoeven (German Edition)
zur Tat nicht bemerken.«
»Richtig.« Dr. Kerrs Augen wandten sich ihr zu. »Die eine Möglichkeit ist wie gesagt, dass er es auf irgendeine Weise schafft, an die entsprechenden Informationen zu kommen, ohne sich den Frauen nähern zu müssen.«
»Und die andere?«
»Dass seine Tarnung derart perfekt ist, dass man ihn nicht wahrnimmt, obwohl er da ist.«
»Keine dieser Frauen?«, fragte Winnie Heller zweifelnd.
Dr. Kerrs Augen ruhten noch immer auf ihr. »Sie haben seine Opfer doch kennengelernt«, sagte sie anstelle einer Antwort. »Zumindest einige von ihnen.«
Winnie Heller hielt ihrem Blick stand. »Ja. Und?«
»Wie schätzen Sie sie ein?«
»In welcher Beziehung?«
»Als Persönlichkeit. Wie sind diese Frauen Ihrer Meinung nach gestrickt? Oder andersherum gefragt: Warum wählt Ihr Mann sie aus?«
»Keine Ahnung.«
Die Psychologin lächelte verschmitzt. »Doch, Sie haben eine Ahnung.«
»Dann wissen Sie mehr als ich.«
»Kommen Sie«, Dr. Kerrs Ton war mit einem Mal beinahe salopp, und Winnie überlegte, ob dieser unerwartete Schwenk Teil eines Spiels war, das die Psychologin mit ihr spielte, »Sie sind der Typ, der seine Hausaufgaben macht.«
»Wie kommen Sie auf die Idee?«, gab Winnie betont munter zurück. »Weil Sie meine Zeugnisse gesehen haben?«
»Nein.«
»Sondern?«
»Weil Sie es hassen, überrascht zu werden.«
Zack, das saß!
Winnie bedachte die Psychologin mit einem zuckersüßen Lächeln, das, so hoffte sie zumindest, ihren Ärger überspielte. »Stimmt«, gab sie zu. Diese Frau war gut, das ließ sich nicht bestreiten. Und sie verstand ihren Job. »Überrascht zu werden ist etwas, was mir nicht gerade angenehm ist.«
Dr. Kerr nickte nur. »Also?«
»Was also?«, gab Winnie zurück. Was sollte das alles? Was für Spielchen spielten sie hier gerade?
»Wie schätzen Sie die bisherigen Opfer ein?«
Winnie überlegte eine Weile. »Selbstbewusst.«
»Auf jeden Fall.«
»Und in gewisser Weise auch erfolgreich.« Sie zögerte und dachte an Tatiana Schwarz und das Restaurant, das sie und ihr alkoholkranker Mann hatten verkaufen müssen, weil es irgendwann einfach nicht mehr weitergegangen war. Zu viel Arbeit für einen allein, zu unzuverlässig der Partner. Das Angebot war nach und nach eingeschränkt, die Rechnungen nicht mehr bezahlt worden. Und irgendwann waren die Gäste ausgeblieben. Eine logische Konsequenz.
»Oh ja«, nickte Dr. Kerr auf der anderen Seite des Schreibtischs. »Auch hierin stimme ich mit Ihnen völlig überein. Jede dieser Frauen ist auf ihre ganz persönliche Weise absolut erfolgreich. «
»Obwohl sie zum Teil schon viel hinter sich haben, haben sie durch die Bank einen optimistischen Eindruck auf mich gemacht«, setzte Winnie Heller ermutigt hinzu.
Und wieder nickte die Psychologin. »Würden Sie eine von ihnen als übertrieben vorsichtig einstufen?«
»Ja, Irina Portner.«
»Eine Voraussetzung für ein selbstbewusstes Auftreten ist
das Gefühl, seinen Platz im Leben gefunden zu haben«, entgegnete Dr. Kerr. »Diese Sicherheit wiederum verleiht einem eine ganz bestimmte Ausstrahlung. Aber sie bedingt auch, dass man sich allzu leicht dem Trugschluss hingibt, übertriebene Vorsicht nicht länger nötig zu haben.«
»Ist das nicht ein bisschen sehr plakativ gedacht?«, fragte Winnie, auch wenn sie die Ansicht der Psychologin im Grunde teilte.
»Natürlich ist es das«, gab diese unumwunden zu. »Aber es ist eine unbestreitbare Tatsache, dass ein Mädchen, das aus instabilen Verhältnissen stammt, das Kind einer Prostituierten etwa oder eines gewalttätigen Vaters, ein Mensch also, der schon einmal in den Abgrund geblickt hat, nicht mit der gleichen Unbekümmertheit auf dem Drahtseil Rad schlagen wird wie jemand, dessen bisheriges Leben von Stabilität und Sicherheit geprägt war.« Sie lehnte sich zurück. »Das Fatale an Gewalttaten ist, dass, wer einmal mit im Boot sitzt, nicht mehr so ohne weiteres wieder aussteigen kann. Solange Sie im Sinne eigener Erfahrungen noch im Tal der Ahnungslosen wandeln, nehmen Sie Gewalt allenfalls als Schlagzeile in einer Zeitung oder in Form einer Nachrichtenmeldung wahr.« Sie zuckte die Achseln. »Je nach Charakter stimmt Sie dergleichen dann betroffen oder mitleidig. Aber wie immer Sie auch reagieren mögen: Das alles ist weit weg von dem, was Sie, was Ihr ganz persönliches Leben angeht. Ungefähr so weit wie die Kriegshandlungen in Kundus oder irgendein Selbstmordattentat in Pakistan oder Palästina.«
Winnie
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