Hitzschlag: Ein Fall für Heller und Verhoeven (German Edition)
dann, dass Merle keine Frau war, die sich mit Halbheiten zufriedengab. Und wenn sie ihr Leben mit jemandem teilte, beschränkte sich dieses Teilen nicht auf Tisch und Bett, sondern umfasste auch Gedanken, Gefühle, Eindrücke und Erlebnisse. Das war ihre ureigenste Art von Vertrauen und im Grunde eine große Ehre, und doch war gerade dieses Vertrauen dazu angetan, Kiras schlechtes Gewissen noch zu verstärken. Im Grunde schämte sie sich, weil sie sich bislang nicht so weit aus der Deckung gewagt hatte. Weil sie sich nach wie vor eine Reserve
zurückbehielt. Auch wenn sie das Gefühl hatte, dass sie dazu immer weniger imstande war.
Etwas, das sie zutiefst verunsicherte.
Irgendwann einmal, in einer Zeit, die ihr wie aus einem anderen Leben vorkam, hatte sie auch daran geglaubt, dass man seine Mitmenschen kennen konnte. Dass es möglich war, ihnen bis ins tiefste Innere ihrer Persönlichkeit zu schauen. In die Seele. Aber dann hatte das Leben sie eines Besseren belehrt. Und wenn sie heute einen neuen Kollegen bekam und ihn nett fand, hielt sie es trotzdem für möglich, eines Tages herauszufinden, dass er trank, seine Frau schlug oder die Kinder missbrauchte. Kiras Erfahrung nach waren die wenigsten Menschen das, was sie zu sein schienen. Mehr noch: Die meisten waren nicht einmal das, was sie selbst zu sein glaubten …
Sie verdrängte die unbequemen Gedanken und widmete sich dem Artikel. Der Heiligenschein des Verbrechens. Eine bitterböse Abrechnung mit dem ermordeten Gastronomen und der Doppelmoral der Gesellschaft.
»Verfluchte Scheiße, nicht wahr?«, seufzte Merle auf der anderen Seite des Tisches. »Nach dieser Sache wird es bestimmt noch schwieriger werden, mit ihr zu sprechen.«
Kira spürte, wie sie blass wurde. »Mit wem?«
»Mit Irina Portner«, antwortete Merle, als sei das die selbstverständlichste Sache der Welt. »Dieser Artikel wird fürchterlich Wellen schlagen, und wahrscheinlich schottet sie sich schon jetzt total ab.«
»Woran sie recht tut«, versetzte Kira.
»Ja, schon …« Merle sah nicht überzeugt aus. Ihre Finger spielten mit dem Verschluss des Tetrapacks Milch, mit dessen Hilfe sie ihren Kaffee genießbar gemacht hatte. Sie kochte ihn grundsätzlich so stark, dass der Löffel darin stand. Angeblich ein Erbe ihrer schwedischen Mutter. »Aber ich hätte sie trotzdem längst anrufen sollen.«
Das geht auf meine Kappe, dachte Kira, die mit Engelszungen auf ihre Partnerin eingeredet hatte, Irina Portner wenigstens bis zum Begräbnis ihres Mannes in Ruhe zu lassen. Sie sah hoch und bemerkte, dass Merle tatsächlich verärgert aussah. Ein Umstand, der sie umgehend wieder in jene Verteidigungsstellung brachte, die sie im Grunde seit Wochen nicht verlassen hatte.
»Weshalb hättest du sie anrufen sollen?«, gab sie in unnötig scharfem Ton zurück. »Kannst du diese Frauen nicht endlich in Ruhe lassen?«
»Diese Frauen?«, fuhr Merle auf. »Was genau meinst du mit diese Frauen ?«
»Herrgott, jetzt zieh dich doch nicht an einer Formulierung hoch.«
» Diese Frauen , wie du sie nennst, haben dasselbe erlebt wie ich.«
»Möglich.«
»Wieso möglich?«, echauffierte sich Merle.
Kira sah sie an und fühlte auf einmal eine tiefe Müdigkeit. Wieder und wieder die gleichen fruchtlosen Auseinandersetzungen. Wann hörte das endlich auf? »Selbst wenn das Erlebnis des Überfalls bei euch allen absolut identisch gewesen wäre, was nicht der Fall ist«, antwortete sie mit erzwungener Ruhe, »dann hieße das noch lange nicht, dass ihr etwas gemeinsam habt, du und die anderen Opfer.«
»Doch«, widersprach ihre Freundin. »Wir haben was gemeinsam. «
»Ach ja? Und was?«
»Unseren Vergewaltiger.«
Das Wort ließ Kira noch immer leise zusammenzucken, auch wenn sie sich als Ärztin im Lauf der Jahre durchaus ein dickes Fell zugelegt hatte. Aber so war das nun mal. Nahezu alles war anders, sobald es einen selbst betraf. Das fing beim Krebs an und hörte bei Vergewaltigung auf …
»Ich spreche von Wahrnehmung«, sagte sie. »Du weißt so gut wie ich, dass zwei Patienten mit exakt demselben Befund ein völlig unterschiedliches Befinden aufweisen können. Schon allein deshalb, weil sich ihr individuelles Schmerzempfinden unterscheidet. Das trifft auf Zweibeiner genauso zu wie auf Vierbeiner«, setzte sie hinzu.
Merle schüttelte den Kopf. »Vergewaltigung ist keine Krankheit.«
»Aber ein traumatisches Erlebnis.« Kira fühlte, wie die Wut nun doch die Oberhand gewann. Auch wenn sie
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