Hitzschlag: Ein Fall für Heller und Verhoeven (German Edition)
Artisten wäre, würde ich herkommen, dachte Winnie, und sie fühlte, wie der Gedanke eine Welle von Adrenalin durch ihre Adern jagte. Die Gefahr ist vergleichsweise gering. Und wenn tatsächlich nur halb so viele Menschen erscheinen, wie nach der ganzen Berichterstattung über den Fall zu erwarten ist, wird ihm das eine gute Deckung bieten.
Hinnrichs hatte für diesen besonderen Nachmittag noch einmal ein Großaufgebot an Einsatzkräften mobilisiert. Zivile Beobachtungswagen waren rings um das Friedhofsgelände verteilt, um im Fall der Fälle einen raschen Zugriff zu garantieren. Dazu gab es zwei verdeckt arbeitende Einsatzteams, die Verhoeven und sie vor Ort unterstützen sollten, und einen als Fotojournalisten getarnten Kollegen von der Abteilung für verdeckte Ermittlungen, der unauffällig im Bild festhalten sollte, was am Grab des ermordeten Gastronomen vor sich ging.
Winnie Heller hatte sich trotz der Hitze einen schwarzen Hosenanzug zugemutet, den dazugehörigen Langarmblazer allerdings nur locker um die Schultern gelegt. Außerdem hatte
sie ein kleines Blumengebinde besorgt, das sie auf den Sarg werfen wollte und das ihr, wie sie hoffte, einen Anstrich von Authentizität verleihen würde.
Ein Blick auf die Uhr verriet ihr, dass die verbleibende Zeit locker ausreichte, um wieder einmal nach dem Grab ihrer Schwester zu sehen. Also wandte sie sich nach links und folgte einem der Hauptwege, der sie in einen der elegantesten Teile des Friedhofs führte.
Während der Asphalt unter ihren Sohlen in roten Schotter überging, dachte Winnie an den Schnee, der gelegen hatte, als Elli vor knapp zwei Jahren zu Grabe getragen worden war. Ein feiner weißer Schleier, der alles zu dämpfen schien. Sogar den Schmerz. Doch die Linderung war nur von kurzer Dauer gewesen. Und dann war der Schmerz mit desto größerer Heftigkeit über sie hereingebrochen …
Sie fingerte den Schlüssel für ihre Gießkanne aus der Tasche und dachte, dass es eigentlich furchtbar armselig war, dass man sogar auf Friedhöfen alles anketten musste, was auch nur den geringsten Wert hatte. Und während sie die Kanne von dem rostigen Kettenschloss befreite, musste sie überdies feststellen, dass ein Stück des grünen Plastiks herausgebrochen war. Wahrscheinlich keine Absicht, eher Nachlässigkeit eines der anderen Besucher.
Winnie seufzte, füllte die Kanne bis zum Rand und machte sich dann auf den Weg zum Grab ihrer Schwester. Was Ellis letzte Ruhestätte betraf, hatten sich ihre Eltern wahrlich nicht lumpen lassen. Bereits das Verschwinden ihrer jüngeren Tochter in einem sündhaft teuren Privatpflegeheim hatten sich Franz und Gisela Heller einiges kosten lassen. Und nun zierte ein monumentaler weißer Marmorstein Ellis Grab. In der linken oberen Ecke hatten ihre Eltern ein paar Takte Schubert eingravieren lassen. Und einen Text. Den Beginn von Wanderers Nachtlied.
Über allen Gipfeln ist Ruh …
Winnie schüttelte angewidert den Kopf, doch als sie um die Ecke bog, schrak sie jäh zusammen.
Dort, an Ellis Grab, stand jemand!
Sie sah eine gebückte Gestalt und eine Hand, die sich an dem weißen Marmor festhielt. Und erst mit ein paar Sekunden Verzögerung wurde ihr klar, wer es da wagte, am Grab ihrer Schwester zu stehen, das sie, wann immer sie bislang hier gewesen war, stets ruhig und verlassen gefunden hatte.
»Was, in drei Teufels Namen, machst du denn hier?«, fauchte sie, kaum dass ihre Mutter sich zu ihr umgedreht hatte.
Unter Gisela Hellers linkem Auge zuckte ein Muskel. »Das ist Ellis Grab«, antwortete sie, als erkläre diese Tatsache irgendetwas.
»Allerdings«, entgegnete Winnie, indem sie sich brüsk abwandte und den Weg zurückstapfte, den sie soeben gekommen war.
»Gehst du?«, bohrte sich die Stimme ihrer Mutter in ihren Rücken.
»Ja«, rief Winnie, ohne sich zu ihr umzudrehen.
»Weil ich da bin?« Gisela Hellers Stimme zitterte leicht. Sie kannte die Antwort auf diese Frage, so viel war klar.
Aber Winnie antwortete trotzdem. Sie konnte diese wunderbare Gelegenheit, ihrer Mutter wehzutun, einfach nicht auslassen. »Genau«, sagte sie, indem sie sich nun doch wieder umdrehte. »Weil du da bist.«
»Aber …«
»Ich komme ein anderes Mal wieder.«
»Winifred, bitte …«
Der weinerliche Tonfall brachte Winnie umgehend auf hundertachtzig. »Was willst du von mir?«, rief sie ohne Rücksicht auf die Stille des Ortes.
»Wir haben uns jetzt schon fast zwei Jahre nicht gesehen.«
»Stimmt. Und?«
»Und
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