Hitzschlag: Ein Fall für Heller und Verhoeven (German Edition)
sich noch so sehr vorgenommen hatte, Verständnis zu haben. Verständnis und Geduld. »Und ein Trauma ist derselben individuellen Prägung unterworfen wie das Schmerzempfinden oder das Gedächtnis.«
»Ich verstehe nicht, warum du dich so vehement dagegen sträubst, dass ich mich damit auseinandersetze«, schwenkte Merle um, weil sie merkte, dass sie anders nicht weiterkam.
»Ich sträube mich nicht dagegen, dass du dich auseinandersetzt. Aber ich möchte nicht, dass man dir wehtut.«
Merles Reaktion erschöpfte sich in einer knappen, wegwerfenden Geste.
»Und außerdem …«
»Was?«
Kira zögerte. »Außerdem hast du meiner Meinung nach kein Recht, anderen Menschen deine Art der Verarbeitung aufzudrängen.«
Ihre Freundin wurde rot. »Aber das tue ich gar nicht.«
»O doch«, hielt Kira ihr entgegen. »Genau das tust du. Und wenn du nicht endlich aufhörst, dich in Leben einzumischen, die dich nichts angehen, landest du noch vor Gericht. «
»Das wird keine von ihnen machen.« Wieder schüttelte sie heftig den Kopf. Offenbar war sie tatsächlich überzeugt von dem, was sie sagte. »Vielleicht ärgert sich die eine oder andere
über mich. Okay. Aber letztendlich sitzen wir alle in einem Boot.«
Kira sah sie eindringlich an. »Also, Gus Vermeulen macht auf mich einen ziemlich entschlossenen Eindruck.«
»Ach, der …«
»Ja, der.« Sie stemmte ihre Fäuste auf die Tischplatte und lehnte sich vor. »Herrgott, noch mal, Merle, versteh das doch endlich. Dieser Mann wird dich anzeigen, wenn du seine Frau nicht in Ruhe lässt. Das hat er jetzt schon mehrfach angekündigt, und ich glaube ihm aufs Wort, dass es ihm absolut ernst ist damit. Und bei Sarah Endecke klang die Sache neulich nicht viel anders.«
»Von mir aus«, versetzte Merle trotzig. »Und wenn schon! Mit diesen Quellen bin ich sowieso durch. Sollen sie ihren gottverdammten Frieden haben.«
Quellen …
Kira überlegte, ob ihrer Freundin überhaupt bewusst war, wie abfällig und herzlos ihre Worte klangen. Zugleich spürte sie einmal mehr, was sich in den vergangenen Wochen bereits angekündigt hatte: dass ihre Partnerin sich mehr und mehr in eine Idee verrannte. Das ist nicht mehr gesund, dachte Kira mit einem flauen Gefühl in der Magengegend. Oder war es die Herzregion?
So genau konnte sie das im Augenblick nicht sagen …
»Das heißt, du lässt ab von den anderen?«, fragte sie, um das Gefühl von Schwäche zu überspielen, das sich in ihr ausdehnte.
»Ja, ja«, murmelte Merle geistesabwesend. Erstaunlicherweise schien sie mit den Gedanken bereits wieder ganz woanders zu sein. »Weißt du, dieser Artikel hat mich gehörig zum Nachdenken gebracht«, erklärte sie nach einer Weile. »Man sagt doch gemeinhin, dass organisierte Serientäter wie der Artist die Berichterstattung über ihre Taten sehr genau verfolgen. «
»Und wenn schon.« Kira, die sich zwischenzeitlich wieder in den Artikel vertieft hatte, hob überrascht den Kopf. »Was hat das mit dir zu tun? … Mit uns?«, korrigierte sie sich hastig, um ihrer Partnerin nicht sofort wieder eine Angriffsfläche zu bieten.
»Verstehst du denn nicht?« Merles Wangen glühten. »Heute Nachmittag ist Jan Portners Begräbnis.«
»Ja und?«
»Und er könnte dort sein!«
Kira hatte das Gefühl, dass ihr der Boden unter den Füßen wegsackte. »Du willst da hin?«, fragte sie ungläubig.
»Das ist die Chance für mich.«
»Eine Chance? Worauf?«
»Ihn zu erkennen.«
»Wie willst du ihn denn erkennen?« Ihre Stimme war wie gelähmt. »Du hast doch so gut wie gar nichts von ihm gesehen. «
»Darüber mache ich mir keine Sorgen«, beharrte Merle. »Ich bin sicher, dass ich ihn trotzdem erkennen würde. Dass es irgendwas gibt, das mir sagt: Das da drüben, das ist er. Das ist der Scheißkerl, der mir das angetan hat.« Ihr Ton wurde scharf, und Kira machte innerlich sofort einen Schritt rückwärts, auch wenn sie wusste, dass die Schärfe nicht ihr galt.
»Das ist Irrsinn!«, sagte sie.
»Möglich«, räumte Merle ein. »Aber wir werden trotzdem hingehen.«
Kira starrte sie an. »Wir?«
In Merles erschien ein gefährliches Funkeln. »Entschuldige, aber ich erwarte von meiner Partnerin, dass sie mich begleitet, wenn ich sie brauche.«
»Was du brauchst, ist Ruhe und eine gute Therapie.«
»Eins nach dem anderen.«
»Nein!« Kira schob entschlossen den Artikel von sich. »Ich habe viel Verständnis, aber da mache ich nicht mit.«
Merle sah zu ihr hoch. Trotzig, fast wild.
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