HMJ06 - Das Ritual
erfahren Genaueres, sobald ich eine Ultraschalluntersuchung machen lasse. Aber lassen wir mal die neun Monate hinter uns und springen wir fünf Jahre weiter. Und gehen wir davon aus, dass deine Situation so bleibt, wie sie ist. Wir heiraten nicht, sondern leben hier zusammen – du, ich, Vicky und das Baby. Wie eine große glückliche Familie.«
»Das klingt verlockend.«
»Aber wenn ich nun Brustkrebs bekomme oder vor einen U-Bahnzug stürze oder …?«
»Gia, ich bitte dich.« Was für Gedanken.
»Sag nicht, es könne nicht passieren. Wir beide wissen, dass so etwas jederzeit geschehen kann. Und wenn mir etwas Ähnliches zustößt, geht Vicky zu meinen Eltern.«
Jack nickte. »Ich weiß.«
Es war logisch und sicherlich das einzig Richtige. Ihre Großeltern waren Vickys einzige noch lebenden Blutsverwandten. Aber es würde eine schmerzhafte Wunde in sein Leben reißen, untätig zusehen zu müssen, wie das Mädchen nach Iowa ging.
»Aber was ist, wenn meine Eltern nicht da sind und mir etwas zustößt? Wenn sie gestorben sind, dann steht nicht nur Vickys Schicksal auf dem Spiel, sondern auch das des Babys. Was geschieht dann mit den beiden Kindern?«
»Ich nehme sie.«
»Nein. Das wirst du nicht können. Sie werden Waisen sein und kriegen vom Gericht einen Vormund zugewiesen.«
»Das wüsste ich aber.«
»Was willst du tun? Sie entführen? Mit ihnen die Flucht ergreifen und dich irgendwo verstecken? Ihre Namen ändern und sie zu einem Leben auf der Flucht zwingen? Ist es das, was du dir für sie vorstellst?«
Jack lehnte sich zurück und trank einen Schluck von seinem Bier. Es schmeckte plötzlich unangenehm sauer. Weil er es jetzt vor sich sah, alles, die wahren Ausmaße des Problems. Wie konnte ihm das nur entgangen sein? Vielleicht weil die alltäglichen Rituale eines Daseins ohne amtliche Existenz, die Bemühungen, ein Leben außerhalb jeder Kontrolle zu führen, ihm in Fleisch und Blut übergegangen und so selbstverständlich geworden waren wie das Atmen.
Würde er seine Art und Weise zu atmen ändern müssen?
Er starrte Gia an. »Du hast dir das Ganze offensichtlich intensiv durch den Kopf gehen lassen.«
Sie nickte. »Es beschäftigt mich seit drei Tagen.« Tränen traten ihr in die Augen. »Ich dränge dich nicht, Jack. Es ist nur so, dass ich, falls mir etwas Schlimmes zustößt, gerne wissen möchte, dass meine Kinder in Sicherheit sind.«
Jack erhob sich und ging um den Tisch herum. Er zog Gia von ihrem Stuhl hoch, rutschte unter sie und setzte sie sich auf den Schoß. Sie schlang einen Arm um seinen Hals und schmiegte sich an ihn.
Er legte die Arme um sie und sagte: »Unsere Babys. Selbst wenn sie meine leibliche Tochter wäre, könnte ich Vicky nicht mehr lieben, als ich es jetzt tue. Und ich fühle mich nicht bedrängt, klar? Eine Vaterschaft gehörte nicht zu meinen unmittelbaren Zukunftsplänen, aber es ist okay. Ich bin flexibel. Ich habe im Rahmen meiner Tätigkeit gelernt, mich auf unerwartete Situationen einzustellen, und ich werde das auch in diesem Fall schaffen. Es ist eine Riesenverantwortung, und ich habe nicht die Absicht, mich ihr zu entziehen.«
»Und wie willst du ihr gerecht werden?«
»Indem ich den Status eines Normalbürgers annehme? Ich weiß es nicht. Ich glaube, mein Vater hat irgendwo eine Geburtsurkunde, daher bin ich mir auch ziemlich sicher, dass ich meine Herkunft beweisen kann. Aber ich kann wohl kaum dem örtlichen Büro der Sozialversicherung einen Besuch abstatten und um eine Nummer bitten. Die Leute dort werden wissen wollen, wo ich mich die letzten sechsunddreißig Jahre herumgetrieben habe. Und warum ich niemals irgendeinen Kontakt zu ihnen gehabt habe. Ich kann nicht einfach behaupten, ich hätte in Übersee gelebt. Wo ist mein Reisepass? Aus den amtlichen Unterlagen wird hervorgehen, dass ich ein solches Dokument nie besessen habe. Schlimmstenfalls werden sie mich für so etwas wie einen Terroristen halten. Günstigstenfalls werden mich städtische, staatliche und bundesweite Behörden wegen Steuerhinterziehung anklagen und überprüfen, ob sie mich wegen Waffen- oder Drogenhandels vor ein Gericht zerren können. Ich weiß nicht, wie gut meine zusammenfantasierte Vergangenheit einer solchen genauen Untersuchung standhält. Eine Anwaltskanzlei wird sich mit meiner Verteidigung dumm und dämlich verdienen. Und am Ende bin ich entweder pleite oder lande im Knast oder beides. Höchstwahrscheinlich beides.«
»Das lasse ich nicht zu. Ich gehe lieber ein
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