HMJ06 - Das Ritual
Risiko ein und nehme dich so, wie du bist, anstatt mit ansehen zu müssen, wie du deine Freiheit aufgibst oder wie sie dir Stück für Stück genommen wird. Wenn du hinter Gittern sitzt, kannst du kein Vater sein. Es muss eine andere Möglichkeit geben. Wie wäre es denn mit falschen Dokumenten?«
»Sie werden schon verdammt gut sein müssen, wenn ich meine ganze Zukunft auf ihnen aufbauen will. Aber ich werde mich mal erkundigen, welche Möglichkeiten es in dieser Richtung gibt.«
Gia klammerte sich regelrecht an ihn. »Unfassbar, in welche Lage ich dich gebracht habe.«
»Du? Du hast mich in keine Situation gebracht, die ich nicht selbst und aus freien Stücken für mich ausgesucht hätte. Dies hier ist eine Situation, mit der ich früher oder später konfrontiert werden sollte. Als ich aus dem bürgerlichen Leben ausstieg, war ich, ich glaube, einundzwanzig, oder? Damals habe ich nicht vorausgeschaut. Ich habe mir nie überlegt, wie ich wieder in die bürgerliche Gesellschaft würde zurückkehren können, weil es mir egal war und ich es im Grunde gar nicht wollte. Ehrlich gesagt, ich glaubte damals nicht, dass ich lange genug leben würde, um mir darüber ernsthaft den Kopf zerbrechen zu müssen.«
»Hast du versucht, dich selbst umzubringen?«
»Nein, aber wenn jemand mich damals beobachtet hätte, wäre es ihm sicherlich so vorgekommen. Ich war leichtsinnig. Nein, das trifft es nicht mal annähernd. Ich war völlig verrückt. Wenn ich mir heute ansehe, welche Risiken ich damals einging, war es fast ein Wunder, dass ich das überlebt habe. Ich hatte früher dieses Gefühl, unsterblich zu sein, das mir das Selbstvertrauen verlieh, alles auszuprobieren. Wirklich alles. Durch ein paar sehr heikle Situationen wurde ich schließlich wachgerüttelt, aber bis dahin …« Er schüttelte den Kopf, als die Erinnerung lebendig wurde. »Wie dem auch sei, ich bin immer noch im Rennen, und jetzt, da es so aussieht, als könnte mir diese Art zu leben nichts anhaben, kann ich mir nicht vorstellen, dass ich auf ewig so weiterleben möchte.«
Gia lachte verhalten. »Ein greisenhafter Handyman Jack. Keine besonders schöne Vorstellung.«
»Kannst du dir vorstellen, wie ich nachmittags bei Julio mein tägliches Glas Milch trinke und anschließend mit meiner Gehhilfe versuche, mich vor dem Finanzamt und der AARP zu verstecken? Das war doch wirklich das Allerletzte.«
Sie lachten, aber nicht sehr lange.
»Gibt es einen Ausweg?«, fragte Gia.
»Es muss einen geben. Es muss etwas arrangiert werden. Ich verdiene meinen Lebensunterhalt damit, Dinge zu arrangieren. Ich werde mir was einfallen lassen.«
Jack hoffte, dass er um einiges zuversichtlicher klang, als er sich fühlte. Dies könnte sein größter Job werden – sein eigenes Leben neu zu ordnen.
Er schaute durch die Hintertür in das verblassende Tageslicht an einem sich rot färbenden Himmel, dann wanderte sein Blick zu der alten Wanduhr aus Eichenholz über der Spüle.
»Autsch. Apropos Job, ich muss los.«
Er spürte, wie sich Gia anspannte. »Geht es um diesen Leibwächterjob, von dem du mir erzählt hast?«
»Bei diesem Auftrag bin ich wohl mehr Babysitter als Leibwächter.«
Sie lehnte sich zurück und sah ihn beschwörend an. »Nimm dich bloß in Acht.«
Er küsste sie. »Tu ich.«
»Denk dran, du bist ein werdender Vater und nicht Rambo der Zweite.«
Für einen kurzen Augenblick war Jack sich nicht ganz sicher, was er wirklich war.
7
Jack hatte es sich an einem kleinen Tisch auf dem Fußweg vor dem Bistro, nicht weit von Eli Bellittos Shurio Coppe, gemütlich gemacht. Er hatte sein erstes Glas Corona – natürlich ohne Zitronenscheibe – fast geleert und beobachtete Bellittos Haustür. Er hatte die Perücke und die seltsame Kostümierung, die er am Vorabend im Laden getragen hatte, zu Hause gelassen. Auf dem Kopf saß jetzt eine Baseballmütze, um sein Haar und seine Augen zu verbergen. Sonst aber sah er aus wie immer.
Er hatte verfolgt, wie die ältere Frau und der neue Angestellte den Laden verließen, und anschließend Bellitto dabei zusehen können, wie er den Laden verriegelte und um die Ecke zu seiner Wohnung verschwand. Die Dämmerung war in die Nacht übergegangen, Wolken waren an dem bisher klaren Himmel aufgezogen und zu einem dichten Baldachin verschmolzen. Die Tür von Bellittos Haus war auf Grund der defekten Straßenbeleuchtung am Ende des Blocks in einen tiefen Schatten getaucht.
Heute herrschte auf der Straße mehr
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