HMJ06 - Das Ritual
Verkehr als am Vortag. Ein ramponierter Lieferwagen würgte eine Abgaswolke heraus, die hinter ihm in der Luft hängen blieb und langsam in Jacks Richtung trieb. Dabei überdeckte sie den köstlichen Duft von geschmortem Knoblauch, der aus der Küche des Bistros herausdrang. Jack hustete. Das waren die Freuden der italienischen Küche im New York des einundzwanzigsten Jahrhunderts.
Auch auf dem Bürgersteig herrschte lebhafterer Betrieb, daher frönte er seiner liebsten Freizeitbeschäftigung: Leute beobachten. Er sah ein Paar bleichgesichtiger, schwarzlippiger Gothic-Girls in fußlangen schwarzen Kleidern vorbeischweben. Dann ein gemischtes Paar mit einem Kinderwagen. Er: sehr dunkelhäutig in einem Hemd mit Buttondownkragen, Krawatte und Khakihose, die schwarzen Haare einer entsprechenden friseurtechnischen Behandlung unterzogen und so glatt und gerade wie die Fifth Avenue. Sie: porzellanweiß in einer Latzhose und mit langen, Wuscheligen hellbraunen Dreadlocks, die ihr auf den Rücken fielen. Ein Teenagertrio in schulterfreien Blusen, Bellbottom-Jeans und Schuhen mit Plateausohlen trabte ebenfalls vorbei – offenbar waren modemäßig die siebziger Jahre wieder zurückgekehrt.
Jack überprüfte die Position des Totschlägers, den er in seinem weiten karierten Hemd untergebracht hatte. Das Gewicht des Bleischrots spannte den Stoff, zog ihn nach unten und verlieh Jack rein optisch einen deutlichen Bauch. Er hatte sich für seine schwarzen hohen Frye-Stiefel mit dem klassischen Geschirr aus Lederriemen und Stahlring entschieden. Außerdem hatte er seine .38er AMT Backup im Schaft des rechten Stiefels untergebracht. Er hoffte, keine seiner beiden Waffen benutzen zu müssen. Im Block war es still und friedlich. Alles deutete auf eine weitere ereignislose Nacht hin, was, abgesehen von der Langeweile, eigentlich keine so üble Sache wäre.
Seine Gedanken kehrten zu der Unterhaltung mit Gia und zu seiner augenblicklichen Lage zurück: Wie könnte er seine Existenz auf eine legitime Basis stellen, ohne gleichzeitig seine Freiheit aufs Spiel zu setzen? Der einfachste Weg wäre, jemand anderer zu werden – die Identität eines legitimen, gesetzestreuen, mit Sozialversicherungsnummer ausgestatteten, Steuern zahlenden Bürgers zu übernehmen. Diese Möglichkeit war nahe liegend, aber nicht sehr praktisch. Und völlig unmöglich, wenn besagter Bürger selbst noch am Leben wäre.
Aber wenn er tot wäre?
Das könnte funktionieren. Nur wie? Sobald die Sterbeurkunde des braven Bürger registriert wäre, würde seine Sozialversicherungsnummer mit einem entsprechenden Hinweis versehen und in den Index der verstorbenen Versicherten aufgenommen werden. Sollte Jack die Sozialversicherungsnummer des Toten danach in irgendeiner Weise benutzen, würden im gesamten Kreditgewerbe die Alarmglocken klingeln, und irgendwann bekämen auch die Finanzbehörden davon Wind und würden sich auf seine Fährte setzen.
Nein, darauf konnte er verzichten.
Der ideale Kandidat wäre ein spinnerter Einzelgänger ohne Ehefrau, Kinder oder sonstige Angehörige. Er dürfte höchstens zehn Jahre jünger oder älter als Jack sein und müsste von der Öffentlichkeit völlig unbemerkt in seinem mit alten Zeitungen voll gestopften Apartment verstorben sein …
Nein, Moment. Noch besser wäre, er würde ganz allein in seiner einsamen Hütte im Wald sterben. Jack würde durch Zufall auf seine Leiche stoßen, ihn in allen Ehren beerdigen und sich anschließend mit der Identität des Verstorbenen aus dem Staub machen.
Ja, richtig, er hatte eine Art mentale Krise und hatte sich für eine Weile in der Einsamkeit verkrochen, doch jetzt war er wieder zurück und bereit, erneut ins Rennen einzusteigen.
Jack schnaubte. Ja, richtig … so wird es klappen. Und wer führt mich jetzt zu dieser Waldhütte hin? Der Osterhase?
Irgendeine Möglichkeit musste es doch geben, verdammt noch mal.
Er hörte ein fernes Donnergrollen. Die Luft roch nach Regen, und er erinnerte sich, im Radio gehört zu haben, dass jederzeit mit Niederschlägen zu rechnen sei. Er wünschte, er hätte besser zugehört. Nun verhieß die Nacht nicht nur langweilig, sondern auch ziemlich nass zu werden.
Super.
Er wollte sich ein zweites Corona bestellen und vielleicht eine Portion Shrimps, die er vielleicht gerade noch verzehren könnte, ehe der Regen einsetzte, als er einen Wagen neben dem Feuerhydranten vor Bellittos Haus am Bordstein anhalten sah. Er konnte das Fabrikat und das Modell wegen der
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