HMJ06 - Das Ritual
Vorhänge verdeckten die Fenster. Die eichengetäfelten Wände waren mit Gemälden von spiritualistischen Heiligenbildern geschmückt. Jack erkannte Madame Blavatsky, die Mona Lisa in diesem Louvre der Scharlatane.
Am anderen Ende des Raums stand ein runder Tisch, der mit Stühlen umgeben war. Ein reich verziertes, kanzelähnliches Podest auf einem gut einen halben Meter hohen Podium beherrschte das Ende des Raums, in dem sie sich zur Zeit befanden. Ifasen trat dahinter, während Jack, Gia, Junie, Karyn und Claude auf den Stühlen Platz nahmen, die davor aufgestellt waren.
»Ich bin Ifasen«, begann der schwarze Okkultismus-Guru, »und ich bin mit einer Gabe gesegnet, die mir gestattet, mit der Geisterwelt zu kommunizieren. Ich kann nicht direkt mit den Toten sprechen, aber mit der Hilfe von Ogunfiditimi, einem alten nigerianischen Weisen, der seit meiner Kindheit mein Geistführer ist, kann ich Offenbarungen und Botschaften des Friedens und der Hoffnung aus dem Jenseits in unsere Welt holen.
Ms. Moons Sitzung bei mir war eigentlich für morgen angesetzt, aber auf Grund ihrer großen Not habe ich sie auf heute vorgezogen. Aus Dankbarkeit hat sie der Menelaus Manor Foundation für Sie, ihre Freunde, eine großzügige Stiftung gemacht, damit Sie an dieser Sitzung teilnehmen können.«
Karyn und Claude applaudierten. Junie, die alleine in der ersten Reihe saß, wandte sich um und winkte.
»Ich werde Ms. Moons und Ihre Fragen in Form einer Zettellese-Routine beantworten«, erklärte Ifasen. »Mein Bruder Kehinde verteilt jetzt Zettel, Briefumschläge und Schreibstifte.«
Die Zettel entpuppten sich als Karteikarten. Jack nahm von Kehinde zwei für Gia und sich selbst. Er kannte dieses Spiel schon, entschied sich aber trotzdem mitzumachen.
Ifasen sagte: »Bitte schreiben Sie Ihre Fragen auf die Karte, unterschreiben Sie, falten Sie sie zusammen, und stecken Sie sie in den Briefumschlag, und kleben Sie diesen zu. Ich werde dann Kontakt mit Ogunfiditimi aufnehmen und ihn fragen, ob er die Antworten in der Geisterwelt finden kann. Dies ist nicht der Zeitpunkt für Scherzfragen oder Versuche, die Geisterwelt zu testen. Vergeuden Sie nicht Ogunfiditimis Zeit, indem Sie Fragen stellen, auf die Sie die Antworten bereits kennen. Und seien Sie sich über eins im Klaren: Die Tatsache, dass Sie die Frage gestellt haben, verpflichtet die Geister nicht zu antworten. Sie suchen sich die Fragen aus. Je gewichtiger die Frage, desto wahrscheinlicher ist es, dass sie beantwortet wird.«
Raffiniert eingefädelt, dachte Jack. Die perfekte Ausflucht.
»Darf ich eine Frage stellen?« Gia hob die Hand und meldete sich wie ein Schulkind.
»Natürlich.«
»Warum müssen wir die Fragen in einen Briefumschlag stecken und ihn zukleben? Warum können wir Ihnen nicht einfach unsere Karten geben und die Antwort erhalten?«
Ifasen lächelte. »Eine sehr gute Frage. Die Kommunikation mit der Geisterwelt ist nicht mit einem Ferngespräch zu vergleichen. Manchmal kommen ganze Worte durch, aber sehr oft besteht die Kommunikation nur aus Andeutungen und Empfindungen. Um den klarsten Kanal zu öffnen, muss ich meinen Geist vollkommen leeren. Wenn ich an eine Frage denke, dann trübe ich sozusagen das Wasser mit meinen eigenen Auffassungen und Vorurteilen. Aber wenn ich die Frage nicht kenne, dann können sich meine eigenen Gedanken nicht störend auswirken. Was dann herauskommt, ist reine Geist-Wahrheit.«
»Raffiniert«, flüsterte Jack. »Sehr raffiniert.«
Jack schrieb Wie geht es meiner Schwester? auf seine Karte und zeigte sie Gia.
»Ist das fair?«, fragte sie.
»Das ist etwas, das ich wissen möchte.«
Ehe er die Karte zusammenfaltete, riss er ein kleines Stück von der linken oberen Ecke ab. Während er die Karte in den Umschlag steckte, sah er zu Gia hin und verfolgte, wie sie das Gleiche mit ihrer Karte tat.
»Was hast du gefragt?«
Sie lächelte. »Das ist ein Geheimnis zwischen mir und Ogunfiditimi.«
Er wollte schon nachhaken, als ein leiser musikalischer Klang durch den Raum schwebte. Er schaute hoch und sah, dass Ifasen so etwas wie eine große Schale aus gehämmertem Messing auf den Fingerspitzen balancierte.
»Dies ist eine Zeremonienglocke aus einem Tempel im Dschungel Thailands. Es heißt, wenn sie richtig aufgehängt wird, klingt sie einen ganzen Tag, nachdem sie nur ein einziges Mal angeschlagen wurde.« Er schnippte mit dem Fingernagel gegen die glänzende Oberfläche – und erneut erklang der weiche Ton. »Aber
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