HMJ06 - Das Ritual
festzuhalten. Aber es schien, sie würden dieses Tauziehen verlieren. Jack versuchte, dem Sog entgegenzuwirken, doch die Schmerzen in seiner verletzten Körperseite nahmen zu. Er veränderte die Position, dabei geriet sein Fuß auf der Treppenstufe ins Rutschen.
Nein! So wie der Strudel jetzt herumwirbelte, wären sie beide verloren, wenn er hineinstürzte.
Gia schrie auf. »Jack!«
Er hörte hinter sich einen dumpfen Laut, und dann legte sich ein schlanker Arm um seinen Hals und zog ihn zurück.
Mit Gia als zusätzlichem Ballast konnten Jack und Charlie Lyle, der kurz vor dem Ertrinken war, so nahe an die Treppe heranbugsieren, dass er imstande war, Charlies Hand zu ergreifen. Jack schleuderte die Geländerstange in den Tümpel und half Charlie dabei, Lyle vollends aus dem Blutsee zu ziehen. Während sein Bruder keuchend und würgend auf der Treppe lag, legte Charlie beide Hände auf seinen Körper und senkte den Kopf. Er schien zu beten.
Jack ließ sich nach hinten gegen Gia sinken. »Danke.«
Sie hauchte ihm einen Kuss aufs Ohr und flüsterte: »Du hast ihn gerettet.«
»Und du hast mich gerettet.«
Während Jack zusah, wie der Pegel des Bluttümpels zu fallen begann, bemerkte er etwas.
»Sieh dir mal die Wände an«, sagte er. »Sie sind trocken …, und es bleiben keine Flecken zurück.«
»Nicht ganz«, sagte Gia und deutete über Jacks Schulter. »Was ist damit?«
Jack sah sie ebenfalls. Sie reichten etwa bis zur halben Höhe der billigen Wandtäfelung hinauf: seltsam geformte Flecken, die in gleichen Abständen um den ganzen Raum verteilt waren. Sie erinnerten ihn an …
»Kreuze!«, rief Charlie. »Lobet den Herrn, meine Gebete wurden erhört! Er hat das Böse aus diesem Haus vertrieben!«
Jack war sich dessen nicht so sicher.
Er beobachtete, wie die Strömung nachließ und der saugende Mittelpunkt des Mahlstroms sich glättete und zu einer Linie formte. Allmählich erschien wieder der orangene Zementboden, während das Blut im breiten Riss in der Mitte versickerte.
»Ich fasse es nicht«, sagte Jack. »Das Blut hat den Fußboden gespalten.«
Jack sah, wie Lyle, der bluttriefend und erschöpft auf der Treppe gelegen hatte, sich mühsam aufrichtete.
»Vor zwei Minuten existierte der Fußboden nicht. Ich schwöre, als ich hineinstürzte, war der Boden verschwunden!«
»Wir glauben Ihnen«, sagte Jack.
Das restliche Blut schien regelrecht zu verdampfen, und zurück blieb der Zement, trocken und fleckenlos.
Lyle rutschte sitzend ein paar Stufen tiefer und kratzte mit der Schuhspitze am orangenen Zementboden. Offensichtlich beruhigt, dass er wieder sicheren Halt bot, stellte er sich hin und ging mit langsamen Schritten auf und ab. Dabei hütete er sich, dem Spalt in der Mitte des Raums zu nahe zu kommen.
»Was ist hier geschehen?«, fragte er in den Raum. »Warum? Was hat das zu bedeuten?«
Jack glaubte, die Antwort zu kennen, eine Antwort, die ihm ganz und gar nicht gefiel. Wenn er richtig lag, dann wünschte er sich Gia so weit wie möglich von diesem Ort entfernt.
»Das werden wir später zu ergründen versuchen, Lyle«, meinte er und wandte sich an Gia. »Lass uns von hier verschwinden.«
»Nein, warte mal«, sagte Gia, erhob sich und drängte sich an ihm vorbei die Treppe hinunter. »Ich will mir diese Kreuze ansehen.«
»Gia, bitte. Das ist kein guter Ort für dich, wenn du weißt, was ich meine.«
Sie lächelte ihn verständnisvoll an. »Ich weiß, was du meinst, aber diese Angelegenheit betrifft auch mich.«
»Nein, das tut sie nicht. Sie …«
»Doch, das tut sie«, widersprach Lyle.
Jack sah ihn ungehalten an. »Wären Sie vielleicht so nett und würden sich aus dieser Sache heraushalten, Lyle?«
»Das kann ich nicht. Ich stecke bis zum Hals in dieser Sache drin. Und Gia ebenfalls. Sie ist die Einzige, die das kleine Mädchen gesehen hat. Sagt Ihnen das denn gar nichts?«
»Es sagt mir nur, dass sie so schnell wie möglich von hier verschwinden sollte.«
Gia trat hinunter auf den Kellerboden. »Ich möchte mir nur diese Kreuze ansehen, okay?«
»Nein«, murmelte Jack, erhob sich und folgte ihr. »Es ist nicht okay. Aber ich habe in dieser Angelegenheit offenbar ohnehin nicht viel zu sagen.«
Jack blieb neben ihr vor einem der glänzenden, kreuzförmigen Flecken auf der billigen Holztäfelung stehen. Der obere Teil war etwa drei Zentimeter breit und knapp dreißig Zentimeter hoch. Der circa zwölf Zentimeter breite Querbalken verbreiterte sich an beiden Enden und saß
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