HMJ06 - Das Ritual
hinsetzen und die ganze Angelegenheit besprechen können.«
Charlie sah Lyle fragend an. »Wie wäre es mit Hasan’s oben in der Ditmars?«
Lyle nickte. »Das ist okay. Dienstags ist dort wenig los. Da haben wir bei den Tischen praktisch die freie Wahl. Aber vorher möchte ich noch duschen.«
»Warum?«, fragte Jack. »Sie sind absolut sauber.«
»Schon möglich, aber ich fühle mich nicht sauber. Ihr drei könnt schon vorgehen. Es ist nicht weit. Ich komme dann nach.«
Jack nickte geistesabwesend. Lyles Theorie bereitete ihm eine gewisse Unruhe. Könnte Gia tatsächlich der Auslöser gewesen sein? Diese Möglichkeit, so abwegig sie einem auch vorkommen mochte, fraß sich wie Säure durch seine Eingeweide.
11
Hasan’s entpuppte sich als kleines orientalisches Cafe und Restaurant. Die Aufschrift auf der orangen Markise über der Eingangstür aus echtem Holz stand dort auf Arabisch und auf Englisch. Die Wände im Innern waren mit weißem Gips verputzt und mit roten und grünen Streifen verziert. Auf einem Breitwandfernseher lief das Programm eines offensichtlich CNN nacheifernden arabischen Nachrichtenkanals. Die Inhaber, ein freundlich lächelndes Ehepaar mittleren Alters mit starkem Akzent, begrüßten Charlie mit einer Zuvorkommenheit, wie sie nur einem regelmäßigen Stammkunden gebührt. Es war so, wie Lyle prophezeit hatte. Nur ein Viertel der Plätze war besetzt, sie konnten sich wirklich ihren Tisch aussuchen. Auf Jacks unauffälliges Kopfnicken hin – er wollte nicht von irgendwelchen Tischnachbarn belauscht werden – entschied sich Charlie für einen Tisch im hinteren Teil des Gastraums. Er hatte eine Marmorplatte und Stühle mit Lehnen aus geflochtenem Stroh.
Jack begab sich sofort auf die Herrentoilette und zog sein Oberhemd aus. Er überprüfte seinen Verband und stellte fest, dass Blut durchsickerte. Die Wunde schmerzte, aber sie schien trotz einer nicht gerade pfleglichen Behandlung nicht zu sehr gelitten zu haben. Er schlüpfte wieder in sein Hemd und deckte den Verband mit ein paar Papierhandtüchern zusätzlich ab.
Lyle erschien ein paar Minuten später, die Dreadlocks noch feucht vom Duschen. Die Serviererin hatte bereits ein Pepsi Light für Charlie, ein Sprite für Gia und zwei Kilian’s für Jack und Lyle gebracht.
»Ich glaube, ich sollte Ihnen von der Andersheit erzählen«, begann Jack.
Gia runzelte die Stirn. »Meinst du, du solltest wirklich auf diesen Punkt eingehen?«
»Nun ja, es würde zumindest erklären, weshalb ich glaube, dass, wenn irgendjemand das Erscheinen der Andersheit in diesem Haus ausgelöst hat, ich es war und nicht du.«
Irgendwo in seinem Hinterkopf hörte er eine Stimme murmeln Es geht eigentlich immer um dich, nicht wahr. Das stimmte nicht. In den meisten Fällen wünschte er sich, es ginge nicht um ihn, aber diesmal hoffte er inständig, dass es so war. Und zwar weil er sich weigerte, Lyles Alternative zu übernehmen, dass Gia diese Manifestationen ausgelöst hatte. Vielleicht fürchtete er sich auch davor, sie zu akzeptieren. Er wollte nicht, dass Gia in irgendeiner Form beteiligt war.
»Ich weiß, aber es klingt so …« Sie wischte sich mit einer Hand über das Gesicht. »Was denke ich? Ich wollte sagen, es klingt so verrückt, so fantastisch, so vollkommen abwegig. Aber nach dem heutigen Tag …«
»Richtig«, sagte Lyle. »Nach dem heutigen Tag werden Sie sich einiges einfallen lassen müssen, um bei uns als abwegig betrachtet zu werden. Ich denke, wir haben den Begriff ›abwegig‹ hinter uns gelassen. Abgesoffen in einem See aus Blut.«
Jack bemerkte, dass Charlie ihn gespannt anstarrte. »Sie sagten ›Andersheit‹? Was meinen Sie damit?«
Jack registrierte, dass die Ereignisse im Keller den jüngeren Kenton offenbar nachhaltig beeindruckt und ihn seines lockeren, großspurigen Auftretens beraubt hatten.
Die Serviererin erschien mit den Speisekarten.
»Warum bestellen wir nicht zuerst und unterhalten uns dann?«, fragte Jack in die Runde.
Gia sah ihn kopfschüttelnd an. »Wie kannst du nach all dem noch hungrig sein?«
»Ich bin immer hungrig.«
Die Speisekarte war zweisprachig – auf der linken Seite englisch, auf der rechten arabisch. Hinzu kamen einige seltsame Rechtschreibfehler auf der englischen Seite. Hasan’s hatte ein umfangreiches Angebot: Salat, Falafel, Hummus, Tahini, Baba Ganoush, Fatoush, Lebneh, gegrillte Calamares, geschmorte Auberginen und Tintenfisch auf syrische Art.
Normalerweise bevorzugte Jack
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