HMJ06 - Das Ritual
wie ich es verstehe, ist die Partei, die über unsere Wirklichkeit gebietet, nicht gut oder böse, sondern sie ist einfach nur da. Das Beste, das wir von ihr erwarten können, ist eine Art wohlwollende Nichtbeachtung.«
»›Ihr sollt keine falschen Götter haben neben mir‹«, zitierte Charlie.
»Es ist kein Gott. Es ist eine Macht, eine Existenzform, ein …« Jack spreizte in einer hilflosen Geste die Hände. »Ich weiß nicht, ob wir etwas so Allumfassendes und Fremdes überhaupt geistig erfassen können.«
»Hat es einen Namen?«, fragte Lyle.
Jack schüttelte den Kopf. »Nein. Ich habe mal gehört, wie jemand es als den Verbündeten bezeichnete, aber das trifft es nicht richtig. Es wird nur für uns wirksam, um weiter über uns verfügen zu können. Ansonsten schert es sich einen feuchten Kehricht um uns.«
»Und diese Andersheit ist … was?«, wollte Lyle wissen. »Die Andere Seite?«
»Richtig. Und sie hat auch keinen Namen, aber die Leute, die über solche Dinge offenbar Bescheid wissen, nennen sie die Andersheit, weil sie alles ist oder darstellt, das nicht wir sind. Ihre Regeln sind anders als unsere. Sie möchte unsere Form der Wirklichkeit in ihre umwandeln, in eine Form, die uns vergiften wird – sowohl physisch als auch spirituell.«
»Das ist der Satan, ich sage es euch!«, rief Charlie. Lyle verdrehte die Augen. Charlie bemerkte dies und deutete auf Jack. »Er hat gerade den Satan bezwungen, Bruder, und das ist dir auch ganz klar. Warum hörst du nicht endlich auf, nach Ausflüchten zu suchen und dich vor der Erkenntnis zu drücken?«
Um einem aufflammenden Streit zuvorzukommen, sagte Jack: »Na ja, die Andersheit könnte durchaus bei der Idee von einem Satan, wie wir ihn heute kennen, Pate gestanden haben. Soweit ich gehört habe, steckt etwas Blutsaugerisches in ihr, und mir kommt es so vor, als führe ihre Vorstellung von Realität zu einer Hölle auf Erden. Daher vielleicht …«
»Aber was hat das alles mit dem heutigen Nachmittag zu tun?«, fragte Lyle.
»Dazu komme ich noch. Im letzten Frühjahr habe ich auf recht drastische Weise erfahren, dass die Elemente innerhalb der Andersheit, die maßgeblich für die Erschaffung der Rakoshi verantwortlich waren, meinen Kopf deshalb rollen sehen wollten, weil ich sie unschädlich gemacht habe. Sie haben es nicht geschafft, aber ein paar Menschen und ein ganzes Haus sind spurlos vom Antlitz der Erde verschwunden.«
»Ach ja, ich erinnere mich, davon gelesen zu haben«, sagte Charlie. »Es ist irgendwo draußen auf Long Island passiert, stimmt’s?«
Jack nickte. »In einer kleinen Stadt namens Monroe.«
»Richtig!«, sagte Lyle. »Ich weiß noch, dass ich damals überlegte, was ich tun könnte, um mich im Zusammenhang mit diesem Ereignis als Helden darzustellen, oder ob ich nicht wenigstens mit irgendeiner verrückten Erklärung herauskommen könnte, um Werbung für mich zu machen. Aber ein halbes Dutzend Medien und Wahrsager aus der City waren schneller als ich.« Wieder sah er Jack verwundert an. »Wollen Sie tatsächlich behaupten, dass Sie das waren?«
»Ich habe es nicht verursacht«, sagte Jack. »Ich war nur zufällig am Ort des Geschehens. Und ich war nicht der Einzige dort. Beide Seiten waren vertreten. Zum Team der Andersheit gehörte ein Knabe, der sich Sal Roma nannte. Das war nicht sein richtiger Name – er hatte ihn gestohlen. Er schien über die Andersheit bestens Bescheid zu wissen, als ob er ihr wesentlicher Repräsentant gewesen wäre. Sein Name ist mir seitdem einige weitere Male untergekommen, einmal, so glaube ich, sogar als Anagramm.«
»Als Anagramm?«, fragte Lyle. »Das ist interessant. Das bedeutet, dass sein Name sich wahrscheinlich in diesen Buchstaben verbirgt. Ich habe mal gelesen, dass Zauberer früher gerne unter falschen Namen auftraten – aus Angst, dass jemand, der ihren wahren Namen kannte, Macht über sie gewinnen könnte.«
»Ich glaube, dass dieser Kerl nur irgendwelche Spielchen spielt. Aber falls ich jemals seinen wahren Namen erfahren sollte, werde ich ihn suchen und …« Jack hielt inne. »Vergessen Sie’s.«
Charlies Miene zeigte gesteigertes Interesse. »Haben Sie mit diesem Sal Roma eine persönliche Rechnung offen?«
Der Gedanke an Kate ließ bei Jack alte Wunden aufreißen. »Das könnte man so ausdrücken.«
Jack blickte zu Gia hin. Sie lächelte mitfühlend und ergriff seine Hand unterm Tisch. Sie hatten sich während des vergangenen Monats sehr oft über diese Sache unterhalten.
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