HMJ06 - Das Ritual
ermüdend sein. Es gab wirklich viele Tage, da war er es leid, sich ständig über die Schulter zu blicken. Aber verdammt noch mal, er liebte es, morgens aufzustehen, ohne zu wissen, was der Tag bringen würde.
Normal zu werden, sich allgemeinen Konventionen zu unterwerfen dürfte sich als überaus seltsamer Prozess erweisen.
Aber der Lohn wäre, dass sein Kind, wo immer es sich aufhielt und mit wem immer es zusammen war, auf ihn zeigen und sagen könnte: »Das ist mein Dad.«
2
Die Heimfahrt war nicht so schlimm gewesen, und das Einsteigen in den Wagen und das Aussteigen hatte er auch noch halbwegs erträglich gefunden. Aber die Stufen … Sogar mit Adrians Hilfe war das Überwinden der engen Treppe zu seiner Wohnung über dem Laden die reinste Qual.
Schließlich konnte er sich vorsichtig in einen Ruhesessel sinken lassen, die Augen schließen und langsam wieder zu Atem kommen.
Es war gut, das Krankenhaus verlassen zu haben und von all den Schläuchen befreit zu sein – obwohl sein Bauch noch immer zitterte, wenn er sich daran erinnerte, wie Schwester Horgan morgens den Katheter entfernt hatte. Es war gut, wieder in seiner Wohnung zu sein, die, in krassem Gegensatz zu dem voll gestopften Laden im Parterre, in einem sparsamen, minimalistischen Stil mit kahlen Wänden, nacktem Parkettboden und leichten, zerbrechlich wirkenden Möbeln eingerichtet war. Der Ruhesessel war ein auffälliger Fremdkörper. Doch ein Heim brauchte wenigstens eine bequeme Sitzgelegenheit.
»Da. Nimm die.«
Eli blickte auf und sah Adrian mit einem Glas Wasser und zwei Percocet-Tabletten in seinen riesigen Händen vor sich stehen.
»Du bist ein guter Kerl, Adrian. Vielen Dank. Was macht dein Bein?«
Der massige Mann beugte das Knie. »Ist schon viel besser. Aber die Kopfschmerzen sind furchtbar. Und ich kann mich noch immer nicht an Montagabend erinnern. Ich weiß, dass ich zu Abend gegessen habe …«
»Ja-ja«, unterbrach ihn Eli. Bitte nicht noch einmal diese ganze Geschichte. »Der Arzt meinte, es sei möglich, dass du dich nie mehr daran erinnern wirst, was an diesem Tag geschehen ist. Vielleicht solltest du dich deswegen glücklich schätzen.«
»Ich bin aber nicht glücklich«, sagte Adrian. Er kreuzte die langen Arme vor der Brust und umarmte sich selbst. Eli fragte sich unwillkürlich, ob sich seine Hände möglicherweise auf dem Rücken berührten. »Ich habe Angst.«
Eine seltsame Vorstellung, dass ein so großer, starker Mann sich fürchten konnte. Aber Adrian war kein geborener Schläger. Er hatte Jura studiert und arbeitete als Assistent von Richter Marcus Warren am State Supreme Court von New York.
»Hast du Angst, dass dieser Mann uns noch einmal belästigen könnte?«
»Davor fürchte ich mich nicht. Tatsächlich wünsche ich mir fast, dass er es tut.« Adrian ballte die Hände zu mächtigen Fäusten. »Ich würde ihn gerne für das, was er mir angetan hat, zur Kasse bitten. Nein, ich habe Angst, dass wir die Zeremonie nicht rechtzeitig ausführen können … du weißt schon, vor der Tag- und Nachtgleiche.«
»Das werden wir aber. Ich habe nicht eine einzige Zeremonie in zweihundertsechs Jahren versäumt. Und ich will auch jetzt nicht damit anfangen.«
»Aber wenn wir es doch nicht schaffen?«
Diese Möglichkeit jagte einen brennenden Schmerz durch Elis Brust. »Die Folgen wären für dich minimal. Du brauchtest nur einen neuen Zeremonienzyklus zu beginnen.«
»Aber ich habe schon fünf Jahre investiert.«
Ein Neuling musste ohne Unterbrechung an neunundzwanzig jährlichen Zyklen teilnehmen, ehe der Alterungsprozess stoppte und der Zustand der Unverletzbarkeit einsetzte. Sobald die Kette unterbrochen wurde, musste der Neuling wieder bei null anfangen.
»Und das ist alles, was du verlierst – fünf Jahre Zeremonien. Das ist nichts. Für mich sind die Folgen jedoch katastrophal. All das Übel, die Verwundungen, der ganze Alterungsprozess, vor dem die Zeremonie mich während der letzten beiden Jahrhunderte geschützt hat, werden gleichzeitig und mit voller Wucht auf mich einstürzen.«
Sein Tod wäre lang und schleppend und unendlich schmerzhaft. Dagegen wären diese Messerwunden nicht mehr als harmlose Nadelstiche.
»Aber wenn du gestorben bist«, sagte Adrian, »wer wird dann die Zeremonie durchführen?«
Eli schüttelte den Kopf. Er wollte fragen: Denkst du überhaupt jemals an etwas anderes als dich selbst? Doch er schwieg. Adrian unterschied sich in nichts von den anderen Mitgliedern des
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