HMJ06 - Das Ritual
passierte. Immer hieß es nur Tara, Tara, Tara.«
»Das ist doch verständlich.«
»Nicht, wenn man sechs ist. Und dann sieben. Und dann acht, neun, zehn. Wenn man erkennen muss, dass das Familienleben eine ständige Totenwache für die Schwester ist. Dann verliert er mit elf seine Mutter. Ich bin sicher, dass er das Gerede von einem Selbstmordversuch gehört hat. Und für ihn bedeutete es, dass seine Mutter ihn im Stich lassen wollte, dass ihre Trauer um ihre tote Tochter größer war als die Liebe zu ihrem lebendigen Sohn. Er war zu jung, um zu verstehen, dass sie das Ganze vielleicht nicht richtig durchdacht hatte, dass es vielleicht der schlimmste Tag ihres Lebens gewesen war und dass sie von irgendeinem unerklärlichen, verrückten Impuls getrieben worden war.«
Gia sah, wie seine Kehle zuckte, während er den Blick senkte. Ihr fiel nichts anderes ein, was sie hätte sagen können, als »Sie armer Mann und dieser arme Junge«. Aber das hätte irgendwie herablassend geklungen, daher wartete sie den Moment des bleiernen Schweigens ab.
Schließlich atmete Joe Portman tief durch und sagte: »Wissen Sie, man kann die Hoffnung nur für einen gewissen Zeitraum aufrechterhalten. Als fünf Jahre verstrichen waren und wir noch immer kein Lebenszeichen von Tara erhalten hatten, mussten wir … mussten wir uns mit dem Schlimmsten abfinden. Wenn ich an diesem fünften Jahrestag mehr Zeit mit ihr verbracht hätte, hätte Dot den Tag vielleicht überstanden, und sie wäre heute noch heil und unversehrt. Aber alles muss zu schlimm, zu düster ausgesehen haben, um es noch länger zu ertragen – vielleicht nur ein paar Minuten lang oder auch für eine Stunde. Aber das reichte aus. Daher hatte Jimmy jetzt keine Mutter mehr, und sein Vater kümmerte sich noch immer nicht um ihn, da jetzt Dot seiner gesamten Fürsorge bedurfte.« Portman rieb sich das Gesicht. »Jimmys erste Verhaftung – die erste von vielen – erfolgte im Alter von dreizehn Jahren wegen des Handels mit Marihuana, und von da an ging es steil bergab mit ihm.«
Gia verspürte einen schmerzhaften Knoten in der Brust, der ständig zu wachsen schien. Das Leid, das dieser Mann, das diese Familie hatte ertragen müssen … kein Wunder, dass er ständig Tabletten schluckte.
»Dann erfuhr ich, dass ich mich von Dot scheiden lassen musste.«
»Sie mussten?«
»Um das Haus zu retten, und um – wie ich damals hoffte – auch Jimmy zu retten. Auf diese Weise wäre sie ohne Unterstützung und auf Sozialhilfe angewiesen gewesen, und dann wären die laufenden Kosten von Medicaid übernommen worden. Die Ironie an der Sache ist: Hätte ich zwei Jahre lang gewartet, wäre es gar nicht nötig gewesen.«
»Sie meinen, die Gesetze wurden geändert?«
»Nein.« Er lächelte, aber es war eher eine schmerzverzerrte Grimasse. »Ich hörte einfach auf zu arbeiten. Jimmy saß damals im Jugendgefängnis, und ich war allein zu Hause und habe es einfach nicht geschafft, aus dem Bett aufzustehen. Und wenn ich es dank eines kleinen Wunders dann doch einmal schaffte, war ich unfähig, das Haus zu verlassen. Ich ließ die Jalousien unten und das Licht gelöscht und saß da in der Dunkelheit und hatte Angst, mich zu rühren. Am Ende ließ die Bank mich hängen. Und dann verlor ich das Haus und landete schließlich bei der Sozialhilfe und bei Medicaid – genauso wie Dot.«
Völlig betäubt von diesem unendlichen Leid, legte Gia die Fotos zurück in den Koffer und schaute sich suchend nach etwas um, das vielleicht angenehmere Erinnerungen weckte. Sie griff nach einem kleinen Stapel alter Vinylschallplatten. Auf der Hülle der ersten Schallplatte war die Nahaufnahme eines rothaarigen Mädchens mit einem sehnsüchtigen Blick zu sehen.
Gia hörte, wie Joe Portman ein knappes Lachen zustande brachte. Es war nicht mehr als ein kurzes »Ha-ha«.
»Tiffany. Taras Lieblingssängerin. Sie hat ihre Schallplatten ständig laufen lassen, sobald sie von der Schule nach Hause kam.«
Gia drehte die oberste Schallplatte um. Sie konnte sich an Tiffany erinnern, daran, wie sie zu Beginn ihrer Karriere immer in Einkaufszentren aufgetreten war. Was waren ihre Hits gewesen? Sie hatte zahlreiche neue Versionen von alten Songs aufgenommen. Hatte sie nicht auch einen frühen Beatles-Song gecovert? Gia ging die Liste der Songs durch …
Sie erschrak regelrecht.
»Stimmt was nicht?«, fragte Portman.
»Ach, nichts.« Gia schluckte und versuchte ihre trockene Zunge anzufeuchten. »Ich hatte nur vergessen,
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