HMJ06 - Das Ritual
noch vorhanden ist.«
Gia kniete sich hin und betrachtete alles, jedoch ohne es zu berühren. Sie fühlte sich, als vergewaltige sie jemanden oder beginge ein Sakrileg. Sie sah einen Stapel ungerahmter Fotos und zwang sich, sie aus dem Koffer zu nehmen und durchzublättern: Aufnahmen von Tara in jedem Alter. Ein bildschönes Kind, sogar als Baby. Bei einem Foto hielt sie an. Es zeigte Tara auf dem Rücken einer großen braunen Stute.
»Das war Rhonda, Taras Lieblingspferd«, sagte Portman, während er ihr über die Schulter blickte.
Doch Gia konzentrierte sich ausschließlich auf Taras Kleidung: eine rot-weiß karierte Bluse, Reithose und Stiefel. Genau das Gleiche, das sie im Menelaus Manor getragen hatte.
»Hat … hat sie oft Reitkleidung getragen?«
»Das trug sie, als sie verschwand. Bei kühlerem Wetter trug sie einen Turniermantel und eine Mütze. Damit sah sie aus wie eine englische Gräfin. Lieber Gott, wie hat sie dieses Pferd geliebt. Würden Sie mir glauben, wenn ich Ihnen erzählte, dass sie sogar Plätzchen für das Tier gebacken hat? Dicke, grobkörnige Ungetüme. Das Pferd hat sie geliebt. Was für ein Kind.«
Gia streifte Portman mit einem verstohlenem Blick und sah den wehmütigen, verlorenen Ausdruck in seinem Gesicht und wusste, dass er mit dem Tod seiner Tochter ganz gewiss nichts zu tun hatte.
Sie blätterte im Bilderstapel weiter und stoppte bei einem Foto von Tara neben einem schlanken, gut aussehenden Mann von Mitte dreißig. Ihr Haar und ihre Augen wiesen die gleiche Blau- und Blondschattierung auf. Gleichzeitig erkannte sie, dass es ihr Vater war.
»Ja, das war ich. Damals war ich noch eine passable Erscheinung.« Er klopfte sich auf die Brust. »Das ist alles, was die Ärzte an Gewichtszunahme bei mir erreicht haben. Nennen Sie mir den Namen irgendeiner Aufputschtablette, und ich könnte wetten, dass ich sie irgendwann konsumiert habe. Nach jeder Tablette habe ich eine unendliche Gier nach Kohlehydraten. Außerdem, alles was ich an Bewegung leiste, ist nicht mehr, als dass ich gelegentlich durch diese Wohnung irre.« Er deutete mit einer ausholenden Geste auf das winzige Apartment. »Was, wie Sie sich vorstellen können, nicht sehr viel ist.«
»Sie sagten, Sie hätten bei der Chase Manhattan gearbeitet?«
»›Gearbeitet‹ ist richtig. Kein Wahnsinnsjob, sicher und solide. Ich hab ganz gut verdient. Und ich wollte meinen MBA nachmachen, aber … es hat sich am Ende nicht so ergeben.«
Gia blätterte zum nächsten Bild. Tara neben einer schlanken, gut aussehenden Brünetten.
»Das war Dorothy«, sagte Portman.
»Ihre Mutter.«
Portman schüttelte den Kopf. »Sie hat Taras Verschwinden noch viel härter getroffen als mich, was eigentlich kaum vorstellbar ist. Sie waren die besten Freundinnen, diese beiden. Sie machten alles zusammen. Dot hat sich von dem Schock nie erholt.«
Gia hatte fast Angst zu fragen. »Wo ist sie jetzt?«
»Sie liegt im Krankenhaus und hängt an einem Tropf.«
»O nein!«
Portman schien auf Autopilot umzuschalten, während seine Augen ins Leere blickten und seine Stimme einen mechanischen Klang bekam. »Verkehrsunfall. 1993, am fünften Jahrestag von Taras Verschwinden. Sie prallte mit ihrem Wagen auf dem LIE gegen einen Brückenpfeiler. Ein bleibender Hirnschaden. Aufgrund der Geschwindigkeit, mit der sie unterwegs war, meinte die Versicherung, es wäre ein Selbstmordversuch gewesen. Unsere Seite widersprach, es war ein Unfall. Wir haben uns dann irgendwo in der Mitte getroffen, aber es reichte trotzdem nicht, um die laufenden Arztkosten zu decken.«
»Was meinen Sie denn, was passiert ist?«
»Ich weiß nicht, was wirklich geschah, aber was ich denke, geht nur mich und Dot was an. Wie dem auch sei, ich konnte es mir nicht leisten, die gesamte Versorgung zu bezahlen, die sie brauchte – ich meine, ich durfte das Haus nicht verlieren, denn ich musste auch an Jimmy denken, den ich damals ganz alleine aufziehen musste.«
»Jimmy?«
»Blättern Sie ein paar Bilder weiter. Da. Das ist Jimmy.«
Gia sah Tara neben einem dunkelhaarigen Jungen, der mit einem Lächeln eine Zahnlücke entblößte.
»Er sieht jünger aus.«
»Zwei Jahre. Er war auf diesem Bild gerade fünf.«
»Wo ist er jetzt?«
»In einer Reha-Klinik. Alkohol, Crack, Heroin. Suchen Sie sich was aus.« Er schüttelte den Kopf. »Unsere Schuld, nicht seine.«
»Warum sagen Sie das?«
»Jimmy war sechseinhalb, als Tara verschwand. Wir hatten ihn völlig vergessen, nachdem das
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