HMJ06 - Das Ritual
wirbelten durch die Luft, während der Schrei sich zu ohrenbetäubender Lautstärke steigerte. Und dann gab es keine Trümmer mehr, doch das wütende Heulen nahm zu, bis Jack die Hände auf die Ohren pressen musste. Der Lärm war wie eine riesige Faust, die rasend vor Wut auf ihn einschlug, bis …
… das Geschehen plötzlich abbrach.
Genauso unvermittelt, wie der Lärm aufgebrandet war, kehrte Stille ein. Das Eindruck einer Präsenz verflüchtigte sich, bis Jack die Empfindung hatte, dass nur noch sie drei sich in dem Keller aufhielten.
Er schüttelte den Kopf, um das störende Klingelgeräusch in seinen Ohren zu vertreiben. Es gelang ihm nicht.
Lyle und Charlie waren geschockt, aber Jack empfand eine geradezu gespenstische Ruhe. Eine tödliche Ruhe.
»Was zum Teufel hatte das zu bedeuten?«, fragte Lyle.
»Ja«, schloss Charlie sich an. »Was hatten Sie in der Hosentasche? Es sah aus wie dieser Comic-Hase …«
»Roger Rabbit.«
»Ja.«
Lyle lachte verkrampft und schüttelte den Kopf. »Roger Rabbit. Genau das Richtige, um den Durchschnittsdämon in Rage zu versetzen.«
Charlie machte einen Schritt auf seinen Bruder zu. »Ich warne dich, Lyle …«
Jack ergriff schnell das Wort. »Tara Portmans Vater hat Gia erzählt, dass seine Tochter ein großer Fan von Roger Rabbit war. Ich habe überlegt, ob dieser Schlüsselanhänger vielleicht ihr gehört hat.«
»Nach dem zu urteilen, was gerade geschehen ist«, sagte Lyle, bückte sich und rührte mit der Fingerspitze in den pulvrigen Resten eines Roger-Rabbit-Beins, »glaube ich, dass sie Ihre Frage mit einem klaren Ja! beantwortet hat.«
»Das hat sie«, meinte Jack und nickte mit dem Kopf. »Und außerdem hat sie ihren Mörder identifiziert.«
Aber seine Genugtuung, das Rätsel gelöst zu haben, wurde durch die unbeantwortete Frage getrübt, wie und warum er in diese Affäre verwickelt war.
12
Gia saß in einer der hinteren Kirchenbänke ziemlich weit vom Altar entfernt und wartete auf Frieden.
Sie hatte einen Spaziergang vom Sutton Square hinunter zur St. Patrick’s Cathedral gemacht. Warum sie hierher gekommen war, wusste sie nicht genau. Sie hatte die Richtung nicht bewusst eingeschlagen. Beim Malen hatte sie eine Pause eingelegt und sich lediglich die Füße vertreten wollen, als sie sich plötzlich auf der Fifth Avenue wiederfand. Vorbei an St. Pat’s und gleich wieder zurück, um hineinzugehen – in der Hoffnung, etwas von der Ruhe und dem inneren Frieden zu finden, die die Religion dem Menschen eigentlich schenken sollte. Bislang hatte sich beides noch nicht bemerkbar gemacht.
Trotzdem war ihr dieses Gefühl der Isolation durchaus willkommen. Hier in diesem imposanten, von Steinen umhüllten Raum fühlte sie sich wie abgeschnitten von der hektischen Realität jenseits der hohen eichenen Kirchentüren. Und geschützt vor jener dringenden Not, die sie in dieses Haus in Astoria rief.
Sie saß allein in der Bank und beobachtete die Scharen von Touristen, die ein und aus gingen. Die Katholiken bekreuzigten sich mit Weihwasser, während der Rest herumstand und nur für die gotischen Bögen, die Stationen des Kreuzwegs an den Wänden ringsum, die überlebensgroßen Statuen, das mächtige Kruzifix und den vergoldeten Altar Augen hatte.
Diese Bilder versetzten Gia zurück in ihre Jahre auf der Oberschule Unserer hoffnungsvollen Mutter in Ottumwa. Es war keine ausgesprochen katholische Stadt, allerdings war Iowa auch kein ausgesprochen katholischer Staat. Es gab gerade genug katholische Kinder, um die örtliche Sonntagsschule zu füllen und die Nonnen des Klosters als Lehrerinnen zu beschäftigen. Von denen in der schwarzen Truppe erinnerte sie sich am besten an Schwester Mary Barbara – allen Kindern nur als Schwester Mary die Barbarin bekannt. Nicht weil sie die Nonne besonders gemocht hatte, ganz im Gegenteil. Sie hatte Gia immer schreckliche Angst eingejagt.
Schwester Mary die Barbarin war das katholische Äquivalent eines baptistischen Höllenfeuer-Predigers gewesen. Ständig redete sie nur von den furchtbaren Strafen, die die Sünder erwarteten, und von all den Schrecken, die der Gott der Liebe all denen schickte, die ihn enttäuschten. Ewige Qualen für das Versäumen der Messe am Sonntag, oder wenn man es nicht
»geschafft hatte«, seine österliche Pflicht zu erfüllen. Die kleine Gia glaubte wirklich alles und lebte in ständigem Grauen davor, mit einer Todsünde auf der Seele sterben zu müssen.
Glücklicherweise betrieben
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